Schleichendes Gift
nicht so ’n Blaulicht, das du aufs Dach setzen kannst?«
»Doch«, gab Carol zurück, kam im Verkehr etwas weiter voran und betete, dass er diesmal in Bewegung bleiben würde. Sie fühlte sich trotz der Dusche, die sie vor weniger als einer halben Stunde genommen hatte, verschwitzt, und ihr war leicht übel. »Aber ich soll es nur im Notfall benutzen. Und denk erst gar nicht dran: Nein, dies hier ist kein Notfall. Es ist nur der Berufsverkehr.«
Während sie noch sprach, löste sich plötzlich der Stau auf, und der Verkehr begann zu fließen. Nach den nächsten zweihundert Metern war es schon nicht mehr ersichtlich, warum es eigentlich zwanzig Minuten gedauert hatte, um achthundert Meter zurückzulegen, da doch jetzt alles relativ glattlief.
Michael runzelte leicht die Stirn, betrachtete seine Schwester und sagte dann: »Also, Schwesterchen, wie läuft’s denn mit Tony?«
Carol bemühte sich, ihre Gereiztheit zu verbergen. Sie hatte gedacht, sie wäre noch mal davongekommen. Ein ganzes Wochenende mit ihren Eltern, ihrem Bruder und seiner Partnerin, ohne dass einer von ihnen den Namen erwähnt hatte. »Eigentlich ganz gut. Ich mag die Wohnung. Er ist ein sehr guter Vermieter.«
Michael schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich das nicht gemeint habe.«
Carol seufzte und schob sich vor einen Mercedes, der sie jetzt anhupte. »Wir haben uns wahrscheinlich öfter gesehen, als wir noch in entgegengesetzten Stadtteilen wohnten«, erzählte sie.
»Ich dachte …«
Ihre Hände hielten das Steuerrad fest umfasst. »Da hast du falsch gedacht, Michael, wir sind beide Workaholics. Er liebt seine Verrückten, und ich hatte ein neues Team auf Trab zu bringen. Ganz zu schweigen davon, dass ich versuchen musste, Paula wieder auf die Beine zu helfen«, fügte sie hinzu, und ihr Gesichtsausdruck wirkte beim Gedanken daran angespannt.
»Das ist schade.« Der Blick, den er ihr zuwarf, war kritisch.
»Wenn ich vom Zusammensein mit Lucy etwas gelernt habe, dann ist es, dass das Leben um einiges leichter ist, wenn man den Alltag mit jemandem auf der gleichen Wellenlänge teilt. Und ich glaube, du und Tony Hill – ihr seid das.«
Carol riskierte einen kurzen Blick, ob er sich über sie lustig machte.
»Der Mann, der einmal sozusagen fast glaubte, du könntest ein Serienmörder sein? Du meinst, der Mann sei auf einer Wellenlänge mit mir?«
Michael rollte mit den Augen. »Hör auf, dich hinter der Vergangenheit zu verstecken.«
»Es geht nicht ums Verstecken. Bei einer Vergangenheit wie der unsrigen, da braucht man Steigeisen und Sauerstoff, um sie zu überwinden.« Carol fand eine Lücke im Verkehrsfluss und fuhr mit blinkender Warnleuchte an den Gehweg heran. »Und hier ist die Stelle, wo du losrennen musst«, erklärte sie in einer nicht besonders guten Shrek-Imitation.
»Hier willst du mich absetzen?« Michael klang ziemlich empört.
»Um zur Vorderseite des Instituts zu kommen, brauche ich zehn Minuten«, sagte Carol und zeigte an ihm vorbei aus dem Beifahrerfenster. »Wenn du einfach durch die neue Einkaufspassage gehst, bist du in drei Minuten bei deinem Kunden.«
»Ach Gott, du hast ja recht. Jetzt sind wir gerade mal drei Monate von der Stadt weg, und schon habe ich das alles nicht mehr im Kopf.« Er legte ihr einen Arm um die Schultern, gab ihr einen kleinen Kuss und stieg dann aus. »Wir sprechen uns in ’ner Woche.«
Zehn Minuten später betrat Carol das Polizeipräsidium von Bradfield. In der kurzen Zeit, die zwischen dem Absetzen von Michael und dem Betreten des dritten Stocks lag – hier hatte das Team seinen Sitz, das sie für eine Ansammlung chaotischer Originale hielt –, hatte sie die Verwandlung von der Schwester zur Polizeibeamtin vollzogen. Das einzige Element, das die beiden Figuren gemeinsam hatten, war der leichte Kater.
Sie ging den Korridor entlang, dessen lavendelfarben und weißgetönte Wände von Türen aus Stahl und Glas unterbrochen wurden. Der mittlere Teil der Scheiben war so mattiert, dass nur schwer Einzelheiten des Geschehens dahinter zu erkennen waren, es sei denn, es spielte sich am Boden ab oder irgendetwas hing von der Decke herunter. Die aufgebretzelten Räume erinnerten sie an eine Werbeagentur. Aber andererseits schien die moderne Polizeiarbeit oft genau so viel mit Imagepflege zu tun zu haben wie mit der Jagd auf Schurken. Gott sei Dank hatte sie in ihrem Berufsalltag so nah an der konkreten Wirklichkeit bleiben können, wie es bei einer Beamtin ihres Ranges
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