TS 76: Eine Handvoll Dunkelheit
große Enttäuschung. Das hat ihm einen schweren Schlag versetzt. Sie haben ja bemerkt, daß er heute nachmittag nicht hier ist. Soviel ich weiß, hat Professor Grote beschlossen. einen längeren Urlaub in den Bergen zu verbringen. Vielleicht wird er später, wenn er sich etwas beruhigt und vergessen hat, was …“
*
Grote zuckte zusammen. Aber er ging weiter. „Keine Angst bekommen“, redete er sich immer wieder ein. „Weitermachen.“
Wieder machte die Röhre einen Satz. Er taumelte. Die Taschenlampe fiel krachend zu Boden und ging aus. Er war jetzt allein, in einer ungeheuren Höhle, einer immensen Leere, die kein Ende zu haben schien, überhaupt kein Ende.
Er ging weiter.
Nach einer Weile begann er müde zu werden. Das war nicht das erste Mal. „Etwas ausruhen kann nicht schaden.“ Er setzte sich. Der Boden war rauh unter ihm, rauh und uneben. „Nach meinen Zahlen dürften es eher zwei Tage sein. Vielleicht sogar etwas länger …“
Er ruhte und döste dabei etwas. Später begann er wieder zu gehen. Die plötzlichen Sprünge der Röhre hatten aufgehört, ihn zu ängstigen. Er hatte sich daran gewöhnt. Früher oder später würde er die Lichtschranke erreichen und sie durchbrechen. Das Kraftfeld würde sich automatisch ausschalten, und er würde wieder seine normale Größe haben. Grote lächelte. Hardy würde sich wundern …
Er stieß mit dem Fuß an und stürzte kopfüber in die Finsternis um ihn. Ein kalter Schauder rann ihm über den Rücken, und er begann zu zittern. Er stand auf und sah sich um.
Welche Richtung?
„Mein Gott“, sagte er. Er bückte sich und berührte den Boden unter seinen Füßen. Welche Richtung? Die Zeit verstrich. Er setzte sich langsam in Bewegung, ging zuerst in eine Richtung, dann in die andere. Er konnte sich nicht orientieren …
Dann rannte er, er raste förmlich durch die Finsternis, zuerst in die eine Richtung, dann in die andere, taumelte, stürzte. Plötzlich erlebte er wieder das vertraute Gefühl des Zusammenschrumpfens! Er atmete erleichtert auf. Er bewegte sich in der richtigen Richtung! Wieder begann er zu rennen, diesmal aber ruhig, nicht ängstlich, tief und regelmäßig atmend.
Der Boden wurde immer rauher und unebener. Bald mußte er stehenbleiben, um nicht über die Felsbrocken zu stürzen. Hatten sie die Röhre nicht geglättet?
„Natürlich“, murmelte er. „Selbst die Oberfläche einer Rasierklinge … wenn man klein ist …“
Er ging langsam weiter und ertastete sich seinen Weg. Über allem lag jetzt ein schwacher Lichtschein, der von den großen Steinen um ihn, ja sogar von dem eigenen Körper auszugehen schien. Was war das? Er sah seine Hände an. Sie schimmerten in der Finsternis.
„Wärme“, sagte er. „Natürlich. Vielen Dank, Hardy.“
Im Zwielicht sprang er von einem Stein zum anderen. Er rannte jetzt über eine endlose, mit Felsen und Steinen übersäte Ebene, sprang wie eine Ziege von einem Stein zum anderen. „Oder wie ein Frosch“, dachte er. Er sprang weiter und blieb hin und wieder stehen, um Luft zu holen. Wie lange würde es noch dauern? Er musterte die mächtigen Blöcke, die sich rings um ihn auftürmten. Plötzlich überkam ihn eisiger Schrecken.
„Vielleicht sollte ich es mir nicht ausrechnen“, sagte er. Er kletterte an einer Klippenwand hinauf und sprang zur anderen Seite hinüber.
Die nächste Schlucht war noch breiter. Er schaffte es mit Mühe und hielt sich dann keuchend und nach Luft schnappend fest.
Er sprang endlos, wieder und wieder. Er vergaß, wie oft er das tat.
Dann stand er an einem Abgrund und sprang.
Er stürzte, hinunter, immer tiefer in die Schlucht, in das Zwielicht hinein, aber die Schlucht hatte keinen Boden. Immer weiter stürzte er.
Professor Grote schloß die Augen. Frieden überkam ihn, und sein ausgepumpter Körper entspannte sich.
„Keine Sprünge mehr“, sagte er im Hinunterschweben. „Es gibt ein Gesetz über fallende Körper … je kleiner der Körper, desto geringer die Wirkung der Schwerkraft. Kein Wunder, daß gewisse Insekten so leicht fallen … gewisse Charakteristika …“
Er schloß die Augen und überließ sich ganz der Finsternis.
*
„Und so“, sagte Professor Hardy, „können wir erwarten, daß dieses Experiment in die Geschichte der Wissenschaft als …“
Er hielt inne und runzelte die Stirn. Die Klasse starrte zur Tür. Einige der Studenten lächelten, einer lachte sogar lauthals auf. Hardy drehte sich um.
„Da soll doch …“,
Weitere Kostenlose Bücher