01 - Nacht der Verzückung
doch war?
Aber
sie spielte weiter. Und schließlich gelang es ihr sogar, das Stück nicht nur
ohne Unterbrechung zu Ende zu spielen, sondern ihrer Einschätzung nach auch
besser als jemals zuvor. Als sie geendet hatte, ließ sie die Hände in den Schoß
sinken und wartete auf die Beurteilung.
»Wundervoll!«,
rief er aus.
Ihr
Kopf flog herum. Er stand mit Elizabeth im Türrahmen des Salons und sah
erstaunt und glücklich zugleich aus.
»Damit
hast du dich die ganze Zeit beschäftigt, Lily?«, fragte er.
Sie
erhob sich und machte einen Knicks. Wenn es vor ihren Füßen ein großes,
schwarzes Loch gegeben hätte, wäre sie liebend gern hineingesprungen. Er hatte
sie dabei ertappt, wie sie eine Fingerübung probte, die eine Fünfjährige
vermutlich doppelt so gut spielte. Vorwurfsvoll blickte sie Elizabeth an.
»Ich
denke, Mr. Stanwick«, sagte Elizabeth zu dem Musiklehrer, »dass Miss Doyle
damit einverstanden ist, Euch heute früher zu entlassen. Lily?«
Lily
nickte. »Ja«, sagte sie. »Danke, Mr. Stanwick.«
Unnötigerweise
begleitete Elizabeth ihn zu Tür und ließ sich auch noch Zeit
»Das
war sehr hübsch«, sagte Neville.
»Es war
eine ganz einfache Übung«, sagte sie, »die ich mehr schlecht als recht gespielt
habe, Mylord.«
»Ja«,
stimmte er ernst zu, »du hast Recht.«
Und
damit hatte er ihr den Wind aus den Segeln genommen. Sie war entrüstet. Hatte
er ihr ein Kompliment gemacht, nur um es zurückzunehmen?
»Und
das alles in einem Monat«, fuhr er fort. »Eine außergewöhnliche Leistung, Lily.
Und du hast gelernt, dich mit Anmut und Leichtigkeit in der Gesellschaft zu
bewegen - vom Tanzen ganz zu schweigen. Womit hast du dich sonst noch
beschäftigt?«
»Ich
habe Lesen und Schreiben gelernt«, sagte sie und hob das Kinn. »Allerdings kann
ich beides nicht besonders gut - noch nicht.«
Er
lächelte sie an. »Ich erinnere mich, wie du sagtest - es war in der Hütte
-, dass du glaubtest, es müsse das wunderbarste Gefühl der Welt sein,
Lesen und Schreiben zu können. Damals habe ich den Wink nicht verstanden. Es
war kein leerer Traum, nicht wahr? Ich glaubte, alles was du brauchtest, wäre
Freiheit und den beruhigenden Balsam ungezähmter Natur.«
Sie
wandte sich halb von ihm ab und setzte sich auf den Klavierhocker. Sie wollte
nicht an die Hütte erinnert werden. jene Erinnerungen waren ihr größter
Schwachpunkt.
»Wie
geht es Lauren?«, fragte sie - hatte sie das nicht schon letzte Nacht
gefragt?
»Gut«,
sagte er.
Sie
blickte prüfend auf ihre Handrücken. »Wirst du ... wird es eine Sommerhochzeit
geben?«, fragte sie, ohne es je gewollt zu haben.
»Von
Lauten und mir?«, sagte er. »Nein, Lily.«
Bis zu
dem Moment, als sie seine Antwort vernahm, hatte sie nicht gewusst, wie sehr
sie sich davor gefürchtet hatte, obwohl er sich natürlich nicht dazu geäußert
hatte, ob es im Herbst oder im Winter eine Hochzeit geben würde oder ...
»Weshalb
nicht?«, fragte sie ihn.
»Weil
ich bereits verheiratet bin«, sagte er leise.
Lily
fühlte sich, als habe sich ihr der Magen umgedreht. Aber genauso hatte er auf
Newbury gesprochen. Es hatte sich nichts geändert. Sollte er ihr noch einmal
die Frage stellen, die er ihr dort gestellt hatte, ihre Antwort würde dieselbe
bleiben. Sie durfte nicht anders lauten.
»Ich
habe dir das Geschenk mitgebracht, das ich gestern Abend erwähnte«, sagte er
und trat ein wenig näher. Mit einem Blick stellte sie fest, dass er ein
Päckchen in der Hand hielt. Er überreichte es ihr.
Er
hatte gesagt, es sei nichts Persönliches, denn das müsste sie ablehnen. Er
hatte ihr Kleider und Schuhe gekauft, als sie auf Newbury Abbey gewesen war,
und sie hatte sie behalten. Aber das war etwas anderes. Sie hatte damals
geglaubt, seine rechtmäßige Ehefrau zu sein. jetzt war sie eine allein stehende
Frau in Gesellschaft eines allein stehenden Mannes und durfte von ihm keine
Geschenke annehmen. Aber sie streckte den Arm aus und nahm das Päckchen
entgegen.
Sobald
sie die Verpackung geöffnet hatte, wusste sie, was es war, obwohl es
verblichen, unförmig und ungewöhnlich sauber war. Und trotzdem stellte sie die
Frage, als sie ihre Handfläche darauflegte.
»Papas?«,
flüsterte sie.
»Ja«,
antwortete er. »Leider ist der komplette Inhalt verschwunden, Lily. Das ist
alles, was ich für dich retten konnte. Aber ich dachte, du möchtest ihn
vielleicht trotzdem haben.«
»Ja.«
Ihre Kehle zog sich schmerzvoll zusammen. »Ja. Danke. Oh, vielen Dank.«
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