01 - Nacht der Verzückung
Sie
beobachtete, wie sich ein dunkler, feuchter Fleck auf dem Tornister
ausbreitete, und tupfte ihn mit einem Finger ab. »Danke.« Sie stolperte auf ihn
zu und hatte ihre Hände um seinen Hals und das Gesicht an seiner Krawatte,
bevor sie sich bewusst wurde, was sie tat. Er schloss sie in die Arme. Mit
einer Hand hielt sie fest den Tornister umklammert und spürte wieder diese
Verbindung der Sicherheit und Geborgenheit, die sie während ihrer Zeit auf der
Iberischen Halbinsel genossen hatte - ihr Vater, Major Lord Newbury und
sie. Es waren keine sorglosen Jahre gewesen -Krieg war stets grausam -,
aber trotzdem überkam sie die Sehnsucht. Sie presste die Augen fest zu, fast,
als wünschte sie sich, wieder in jenem Leben zu sein, wenn sie sie öffnete.
Als sie
sich wieder gefangen hatte, ließ er sie los und sie setzte sich wieder auf den
Hocker.
»Es tut
mir Leid um den Inhalt«, sagte er. »Es tut mir Leid, dass du nie erfahren
wirst, was dein Vater dort für dich aufbewahrt hatte.«
»Wo
hast du ihn gefunden?«, fragte sie.
»Man
hat ihn zu deinem Großvater nach Leavenscourt in Leicestershire geschickt«,
erzählte er ihr. »Er war dort Stallknecht. Er starb leider noch vor deinem
Vater und sein Sohn, der Bruder deines Vaters, starb kurze Zeit später. Aber
dort lebt immer noch eine Tante von dir, Lily, und zwei Cousins. Deine Tante
hatte den Tornister.»
Sie,
hatte eigene Verwandte - eine Tante und zwei Cousins. Diesen Gedanken
sollte sie eigentlich aufregend finden, dachte Lily. Aber im Augenblick war sie
zu sehr erfüllt von der Trauer um ihren Vater. Sie stellte fest, dass sie
niemals angemessen um ihn getrauert hatte. Sie hatte nur drei Stunden nach
seinem Tod geheiratet und nur wenige Stunden später hatte jener unendlich lange
Alptraum begonnen, nachdem sie knapp oberhalb des Herzens angeschossen worden
war. Sie hatte niemals die Möglichkeit gehabt, die ganze Schwere ihres
Verlustes zu erfassen.
»Ich
vermisse ihn«, sagte sie.
»Ich
auch, Lily.« Er lehnte sich an das Klavier. »Aber jetzt hast du zumindest
etwas, das dich an ihn erinnert. Was geschah mit deinem Medaillon? Haben es die
Franzosen genommen ... oder die Spanier?«
»Manuel«,
sagte sie. »Aber er gab es mir zurück, als ich freigelassen wurde. Allerdings
ist es kaputtgegangen. Die Kette brach, als er es mir vom Hals riss.«
Sie
hörte, wie er vernehmlich einatmete. »Du hast es immer getragen«, sagte er.
»War es ein Geschenk deines Vaters oder deiner Mutter?«
»Von
beiden, nehme ich an«, sagte sie. »Ich habe es schon immer gehabt, so weit ich
mich zurückerinnern kann. Papa sagte oft, dass ich es immer tragen müsse, dass
ich es nie abnehmen oder verlieren dürfe.«
»Aber
die Kette ist gerissen«, sagte er. »Du musst das Medaillon wieder tragen, Lily,
als sichtbares Andenken an deine Eltern. Erlaubst du mir, es zu einem Juwelier
zu bringen, damit die Kette repariert werden kann?«
Sie
zögerte. Sie würde ihm ihr Leben anvertrauen, aber sie konnte den Gedanken
nicht ertragen, das Medaillon noch einmal aus der Hand zu geben. Als sie von den
Spaniern gefangen genommen wurden war, hatte man ihr die Kleider ausgezogen,
aber erst als Manuel ihr das Medaillon vom Hals gerissen hatte, hatte sie sich
richtig nackt gefühlt. Sie hatte das Gefühl gehabt, als sei ihr ein Teil ihrer
selbst entrissen worden.
»Oder
besser noch«, sagte Neville, der ihr Zögern richtig deutete, »wirst du mir
erlauben, mit dir zu einem Juwelier zu gehen, um die Kette richten zu lassen?
Es ist sicherlich möglich, sie an Ort und Stelle zu reparieren, sodass du
zusehen kannst.«
Sie sah
ihn voller Vertrauen an und vergaß für einen Augenblick die Barriere, die für
immer zwischen ihnen aufrechterhalten werden musste. »Ja«, sagte sie. »Danke,
Neville.« Und als sich ihre Blicke trafen und ineinander verharrten, zog sie
die Unterlippe zwischen die Zähne. Sie fühlte sich, als habe sie eine
Liebkosung ausgesprochen, und er sah so aus, als habe er eine gehört.
Aber
wie auf ein Stichwort öffnete sich die Tür und Elizabeth trat strahlend ins
Zimmer. »Meine Güte«, sagte sie, »Mr. Stanwick erzählt gern, wenn man ihm
Gelegenheit dazu gibt. Vergib mir, wenn ich dich haben warten lassen, Neville.
Aber ich wage zu behaupten, dass Lily dich gut unterhalten hat. Sie hat sich zu
einer wahren Meisterin der leichten Konversation entwickelt.«
»Ich
kann mich nicht beklagen«, sagte Neville.
»Lasst
uns zum Tee ins Wohnzimmer gehen«, schlug Elizabeth
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