01 - Nacht der Verzückung
besser aus«, sagte er. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
»Ja,
danke, Sir«, sagte sie und verzog das Gesicht. Sie musste unbedingt daran
denken, ihn nicht so anzureden.
»Du
hast tief und fest geschlafen, als ich vorhin nach dir sah. Du siehst sehr
hübsch aus.«
»Dank
Dolly«, sagte sie und lächelte die Magd an. »Sie bügelte mein Kleid und zähmte
mein Haar. War das nicht nett von ihr?«
»In der
Tat.« Er hob die Augenbrauen. »Du kannst dich zurückziehen ... Dolly.«
»Jawohl,
Mylord.« Ohne ihn anzusehen, machte die Magd einen tiefen Knicks und eilte
hinaus.
Nun, diese Reaktion konnte Lily begreifen. Sie hatte Soldaten gesehen, die sich in
ähnlicher Haltung von ihm entfernten - obwohl natürlich ohne Knicks -,
nachdem er sie angesehen hatte. Seine Männer hatten ihn immer verehrt und
seinen Zorn gefürchtet. Lily hatte diese Angst niemals gespürt.
»Mein
Name ist Neville, Lily«, sagte er. »Du kannst mich so nennen, wenn du möchtest.
Ich werde dich nun zum Tee in den Salon führen. Du brauchst dir keine Gedanken
zu machen. Da mehrere Gäste bereits abgereist sind, wird die Zahl der
Anwesenden nicht so überwältigend sein. Zum größten Teil handelt es sich um
Mitglieder meiner Familie. Ich werde bei dir sein. Sei einfach nur du selbst.«
Aber würden
nicht einige dieser hochherrschaftlichen Leute, die sie gestern Nacht und heute
Morgen gesehen hatte, dort sein, versammelt im Salon? Und er war im Begriff,
sie dorthin zu bringen, damit sie sich zu ihnen gesellte? Wie sollte sie ihnen
gegenübertreten? Was sollte sie sagen? Oder tun? Und was würden sie von ihr
halten? Nicht sehr viel, vermutete sie. Sie hatte die meiste Zeit ihres Lebens
mit der Armee verbracht und war sich der großen Kluft sehr wohl bewusst, die
die Männer - ihren Vater eingeschlossen - von den Offizieren
trennte. Und hier war sie nun, die Gattin eines Grafen, die ihren ersten
Auftritt in seinem Haus an genau dem Tag hatte, an dem er eine andere Frau
hätte heiraten sollen - eine Dame aus seiner eigenen Schicht, daran
zweifelte sie nicht. Eine weniger angenehme Situation war kaum vorstellbar.
Aber
ihr ganzes Leben lang war Lily in schwierige Situationen geraten, von denen sie
sich keine selbst ausgesucht hatte. Sie war aufgewachsen mit einer Armee, die
sich im Kriegszustand befand. Sie hatte sich den unterschiedlichsten Orten,
Situationen und Menschen anpassen müssen. Sie hatte sogar sieben Monate
überstanden, die viele Frauen als schlimmer als den Tod empfinden würden.
Und so
trat sie vor und nahm Nevilles Arm, ohne sich ihre Bedenken anmerken zu lassen,
und sie traten hinaus auf den breiten Korridor, an den sie sich noch erinnerte.
Sie stiegen eine der großen, bogenförmigen Treppen hinab. Sie sah über das
Geländer hinunter auf die mit Marmor geflieste Halle und hinauf in die vergoldete,
mit Fenstern versehene Kuppel. Erneut überkam sie das Gefühl, geschrumpft zu
werden. Sie war überwältigt.
»Ich
hatte ein großes Landhaus erwartet«, sagte sie.
»Wie
bitte?«
»Dein
Heim«, sagte sie. »Ich erwartete ein größeres Landhaus in einem großen Garten.«
»Ist
das wahr, Lily?« Er sah sie ernst an. »Und stattdessen hast du dies hier
vorgefunden? Das tut mir Leid.«
»Ich
dachte, nur Könige leben in Häusern wie diesem«, sagte sie und kam sich äußerst
töricht vor, als sie bemerkte, dass sich kleine Fältchen um seine Augen
bildeten und ihre Worte ihn offensichtlich amüsierten.
Dann
näherten sie sich zwei gewaltigen, doppelflügligen Türen und einer jener
livrierten Diener wartete darauf, sie zu öffnen. Es war der Diener, mit dem sie
am letzten Abend zusammengetroffen war, erkannte Lily. Sie konnte sich sogar
noch daran erinnern, wie ihn der Oberdiener angesprochen hatte. Ihr Leben in
der Armee hatte sie darin geübt, sich die Gesichter und Namen derer zu merken,
die mit ihnen zogen. Sie lächelte freundlich.
»Wie
geht es ihnen, Mr. Jones?«, fragte sie.
Der
Diener sah verdutzt aus, errötete sichtlich unter seiner weißen Perücke, neigte
den Kopf und öffnete die Türen. Lily blickte hoch und sah erneut die
Lachfältchen in Nevilles Augenwinkeln. Und er spitzte den Mund, um nicht lachen
zu müssen.
Aber
sie hatte keine Gelegenheit, sich weiter mit der Sache zu befassen, denn als
sie in den Salon traten, stürzten so viele Eindrücke auf einmal auf sie ein,
dass sie sich benommen und atemlos fühlte. Da war die gewaltige Größe und
Erhabenheit des Raumes selbst -vier ihrer imaginären
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