01 - Nacht der Verzückung
sie
plötzlich Angst bekam, es fallen zu lassen und zu zerbrechen.
Nevilles
Hand legte sich beruhigend auf ihre Schulter.
Der
Raum war nicht länger still, wie Lily mit einer gewissen Erleichterung
bemerkte, und sie wurde nicht mehr von allen angestarrt. Alle trieben höfliche
Konversation. Während sie ihr Sandwich aß und es ihr gelang, ihren Tee ohne
Zwischenfall zu sich zu nehmen, lauschte sie den Unterhaltungen in ihrer
Umgebung. Aber man ignorierte sie auch nicht. Menschen, deren Namen sie
vergessen hatte dass ihr normalerweise außergewöhnlich gutes Gedächtnis sie
ausgerechnet in diesem Moment im Stich lassen musste! -, versuchten immer
wieder, sie in ihre Konversation einzubeziehen. Einige der Damen hatten eine
lebhafte Diskussion über die jeweiligen Vorzüge zweier verschiedener
Haubenarten geführt.
»Was
denkt Ihr darüber, Lily?«, fragte eine von ihnen wohlwollend, eine auffällig
gekleidete, rothaarige Dame. War sie eine Cousine?
»Ich
weiß nicht«, sagte Lily, für die eine Haube schlicht und ergreifend dazu
diente, sie vor der Sonne zu schützen.
Dann
wurde über ein bestimmtes Theater in London gesprochen und es gab
unterschiedliche Auffassungen darüber, ob das Publikum Komödien oder Tragödien
bevorzugte. Unvermittelt musste Lily mit freudiger Wehmut an die Schwänke
denken, die die Soldaten von Zeit zu Zeit zur Aufheiterung des Regiments
aufgeführt hatten.
»Was
meint Ihr, Lily?«, fragte ein Gentleman, ein jüngerer Mann mit angenehmen
Gesichtszügen und leicht gelichtetem, blondem Haar. War er ein Verwandter oder
einer der Freunde?
»Ich
weiß nicht«, antwortete Lily.
Andere
sprachen über ein Konzert, das einige von ihnen vor Wochen in London gehört
hatten. Die Herzogin von Anburey hielt Mozart für das größte musikalische Genie
aller Zeiten. Ein stattlicher Mann mit gerötetem Gesicht widersprach und
plädierte für Beethoven. Es gab große Unterstützung für beide Seiten.
»Was
ist Ihre Meinung, Lily?«, fragte die Herzogin.
»Ich
weiß nicht«, sagte Lily, die von keinem der beiden Herren jemals gehört hatte.
Sie
begann sich zu fragen, ob man sie absichtlich nach ihrer Meinung fragte, da
alle wussten, dass sie nichts wuss te, dass sie noch immer fast genauso
unwissend war wie an dem Tag ihrer Geburt. Aber vielleicht auch nicht. Sie
schienen keine üblen Hintergedanken zu haben.
Dann
sprach man über Bücher. Die Herren diskutierten politische oder philosophische
Traktate und einige der Damen verteidigten den Roman als eine legitime
Kunstform.
»Ich
kann nicht lesen«, gab Lily zu.
Plötzlich
schienen alle verlegen zu sein. Es trat eine kurze, unangenehme Stille ein, die
offensichtlich niemand so schnell überbrücken konnte. Lily hatte seit jeher
lesen wollen. Ihre Eltern hatten ihr Geschichten erzählt, als sie noch klein
war, und sie hatte sich immer vorgestellt, wie schön es doch sein musste, ein
Buch zu nehmen, wann immer man wollte, und in diese magischen Welten der
Fantasie entfliehen zu können - oder sich Wissen von Dingen anzueignen,
die sie nicht kannte. Sie war ja so unwissend. Aber sie hatte nie die
Möglichkeit gehabt, eine Schule zu besuchen, und ihr Vater, der ein kleines
bisschen lesen und seinen Namen schreiben konnte, hatte sich immer für unfähig
erklärt, sie zu unterrichten.
Neville
beugte sich von hinten über ihren Stuhl. Er würde sie retten und aus diesem
Raum führen, dachte sie mit gewisser Erleichterung. Doch bevor er das tun
konnte, ergriff die Dame hinter dem Teetablett das Wort - Elizabeth. Lily
hatte schon vorhin bemerkt, dass sie sehr schön war, obschon nicht mehr jung.
Sie hatte Grazie und Eleganz, um die Lily sie beneidete, ein ausdrucksstarkes
Gesicht und Haar so blond wie Nevilles. Sie war seine Tante.
»Ich
wage zu behaupten, dass Lily ein lebendes Buch ist«, sagte sie und
lächelte freundlich. »Es ist mir nie möglich gewesen, über die Grenzen dieses
Landes hinaus zu reisen, Lily, weil diese elenden Kriege schon fast mein ganzes
Erwachsenenleben andauern. Ich würde es so lieben, zu reisen und all die Länder
und Kulturen zu sehen, von denen ich bis jetzt nur habe lesen können. Du musst
einige gesehen haben. Wo bist du überall gewesen?«
»In
Indien«, sagte Lily. »In Spanien und Portugal. Und jetzt in England.«
»Indien!«,
rief Elizabeth aus und sah Lily bewundernd an. »Die Männer kommen von solchen
Reisen nach Hause und erzählen von dieser Schlacht und jenem Gefecht. Was haben
wir doch für ein Glück, eine
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