01 - Nacht der Verzückung
Schule besucht, Lily«, sagte der Herr mit dem gelichteten blonden
Haar, »hätte man Euch gelehrt, dass jedes Land und jedes Volk dieser Welt
Britannien und den Briten unterlegen sind.« Aber seine Augen lachten bei diesen
Worten.
»Dann
ist es vielleicht ganz gut, dass ich nicht zur Schule gegangen bin«, antwortete
Lily.
Er
blinzelte ihr zu.
»In der
Tat, Lily«, sagte Elizabeth, »gibt es eine Schule des Lebens, in der
diejenigen, die Intelligenz, einen offenen, fragenden Verstand und eine gute
Beobachtungsgabe besitzen, wertvolle Lektionen lernen können. Du scheinst mir
eine eifrige Schülerin gewesen zu sein.«
Lily
strahlte sie an. Für ein paar Minuten hatte sie ihre Unwissenheit und ihre
Minderwertigkeit gegenüber all diesen hochherrschaftlichen Menschen vergessen.
Sie hatte vergessen, dass sie sich fürchtete.
»Aber
wir haben dich zu lange erzählen lassen und sind schuld daran, dass dein Tee
kalt geworden ist«, sagte Elizabeth. »Komm. Lass mich den Rest auskippen und
eine frische Tasse einschütten.«
Eine
der jungen Damen - die Rothaarige - wurde gebeten, im Musikzimmer
nebenan Klavier zu spielen. Einige folgten ihr und ließen die Doppeltüren offen
stehen. Neville setzte sich auf den Platz neben Lily, der gerade frei geworden
war.
»Bravo!«,
sagte er leise. »Das hast du sehr gut gemacht.«
Aber
Lily lauschte der Musik. Sie war gefesselt. Wie konnte ein so reichhaltiger und
harmonischer Klang nur von einem einzigen Instrument herrühren, das nur mit
zehn Fingern gespielt wurde? Wie wundervoll musste es sein, so etwas zu können.
Sie würde alles geben, dachte sie plötzlich, um Klavier spielen zu können -
und um lesen zu können und über Hauben diskutieren zu können oder über
Tragödien und den Unterschied zwischen Mozart und Beethoven.
Sie war
so furchtbar, so schrecklich unwissend.
Kapitel 7
Neville stand auf
den Marmorstufen vor dem Haus und beobachtete, wie Lily mit Elizabeth und dem
Herzog von Portfrey zum Steingarten schlenderte. Er unternahm keinen Versuch,
sich ihnen anzuschließen. Wenn Lily seine Gräfin sein sollte, musste sie das
von sich aus schaffen, ohne dass er sich permanent in ihrer Nähe aufhielt, um
sie aus unangenehmen Situationen zu erlösen - so wie er es während des
Tees vorgehabt hatte, als sie zugab, Analphabetin zu sein. Er hatte jedermanns
Entsetzen und ihre Verlegenheit gespürt und war sofort entschlossen gewesen,
sie vor weiteren Erniedrigungen zu bewahren. Aber Elizabeth hatte sie auf
grandiose Art und Weise mit ihren Fragen über Indien gerettet und unversehens
war Lily in eine warmherzige, gelöste und gelehrte Studentin des Lebens
verwandelt worden. Es war nicht zu leugnen, dass sie mit ihren offenen
Bemerkungen über Hosen und Korsetts einige seiner Tanten und Cousinen
schockiert hatte. Doch mehr als nur ein oder zwei seiner Verwandten schienen
von ihr bezaubert gewesen zu sein.
Unglücklicherweise
gehörte seine Mutter nicht dazu. Sie hatte darauf gewartet, dass Lily ging, und
hatte sich dann nach dem Tee mit den engsten Familienmitgliedern zurückgezogen.
»Neville«,
hatte sie gesagt, »ich weiß nicht, was du dir dabei gedacht hast. Sie ist
vollkommen unmöglich. Sie kann keine Konversation treiben, sie hat keine
Erziehung, keine Bildung, keine - keine Präsenz. Und hat sie
nichts Passenderes für einen Nachmittagstee als dieses ärmliche Musselinkleid?«
Aber so leicht ließ seine Mutter sich nicht unterkriegen. Sie hatte die
Schultern gestrafft und ihren Ton verändert. »Wie dem auch sei, durch Klagen
erreicht man wenig, nicht wahr? Man muss sie einfach erziehen.«
»Ich
finde sie verdammt hübsch, Nev«, hatte Hal Wollston, sein Cousin, gesagt.
»Das
glaube ich dir gerne, Hal«, hatte Lady Wilma Fawcitt, die rothaarige Tochter
des Herzogs von Anburey, herablassend geäußert. »Aber was bedeutet schon
Schönheit. Ich stimme Tante Clara zu, sie ist unmöglich!«
»Vielleicht«,
hatte Neville mit ruhigem Nachdruck geäußert, »könntest du dich bitte daran
erinnern, Wilma, dass du von meiner Gemahlin sprichst.«
Sie
hatte diesen Einwand zwar als >dummes Zeug< abgetan, danach jedoch
geschwiegen.
Seine
Mutter hatte sich erhoben, um den Raum zu verlassen. »Ich muss ins Witwenhaus zurück
und sehen, was ich für die arme Lauren tun kann«, hatte sie gesagt. »Aber
morgen werde ich ins Herrenhaus zurückziehen, Neville. Es bedarf einer
Hausherrin und Lily ist in nächster Zeit wohl kaum in der Lage, diese Rolle zu
übernehmen. Ich werde
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