01 - Nicht ohne meine Tochter
eine Schere bei Nasserines Nähsachen und arbeitete so lange, bis alles in winzige Stückchen geschnitten war. Dann holte ich mein Schraubenzieher-Messer und entfernte schnell die Scheibe. Ich lehnte mich über den Gehweg hinaus und wartete einen Augenblick ab, in dem niemand aufpasste. Dann ließ ich die Stückchen meiner Spirale auf die Straßen Teherans segeln.
Dads Geburtstag war am 5. April. Er wurde fünfundsechzig, wenn er noch am Leben war. Johns Geburtstag war am 7. April. Er wurde fünfzehn. wusste er, dass ich noch am Leben war? Ich konnte ihnen keine Geschenke machen. Ich konnte ihnen keine Kuchen backen. Ich konnte sie nicht anrufen um ihnen alles Gute zum Geburtstag zu wünschen. Ich konnte ihnen keine Geburtstagskarten schicken. Ich wusste noch nicht einmal, wann der Tag ihres Geburtstags war, weil ich die zeitliche Orientierung verloren hatte.
Manchmal stand ich nachts auf dem Balkon, sah den Mond an und dachte, dass es, obwohl die Erde so groß ist, doch nur einen Mond gab, denselben für Joe und John, Mom und Dad und für mich. Es war derselbe Mond, den auch Mahtab sah. Irgendwie gab er mir ein Gefühl der Verbundenheit. Eines Tages sah ich zufällig aus dem vorderen Fenster und hielt den Atem an. Da stand Miss Alavi auf dem Gehweg auf der anderen Seite der Gasse und sah zu mir herauf. Einen Augenblick lang dachte ich, sie müsste eine Erscheinung sein, die mein verwirrter Geist heraufbeschworen hatte. »Was machen Sie denn hier?«, fragte ich überrascht. »Ich habe beobachtet und beobachtet und warte seit Stunden.«, sagte sie. »Ich weiß, was mit Ihnen geschehen ist.« Wie hatte sie herausgefunden, wo ich wohnte? fragte ich mich. Durch die Botschaft? Durch die Schule? Es war mir egal; ich war begeistert, als ich die Frau sah, die bereit war, ihr Leben dafür zu riskieren, Mahtab und mich aus dem Land zu bringen. Und bei dem Gedanken stöhnte ich auf in der erneuten Erinnerung daran, dass Mahtab verschwunden war. »Was kann ich tun?«, fragte Miss Alavi. »Nichts.«, sagte ich, ganz von meinem Elend in Anspruch genommen.
»Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte sie und senkte ihre Stimme, als sie merkte, wie verdächtig es aussehen musste, wenn man sich so über die ganze Breite der Straße hinweg mit einer Frau an einem Fenster im ersten Stock unterhielt, und noch dazu auf Englisch. »Warten Sie!«, sagte ich. In wenigen Sekunden hatte ich die Scheibe entfernt. Dann lehnte ich meinen Kopf an die Gitterstäbe, und wir führten unsere merkwürdige Unterhaltung mit leiserer Stimme fort. »Seit Tagen habe ich das Haus beobachtet.«, sagte Miss Alavi. Sie erzählte, dass ihr Bruder eine Zeit lang bei ihr gewesen war und im Auto gesessen hatte. Aber jemand war misstrauisch geworden und hatte gefragt, was sie da machten. Miss Alavis Bruder hatte erklärt, er beobachte ein Mädchen in einem der Häuser, weil er es heiraten wolle. Das war eine ausreichende Erklärung gewesen, aber vielleicht hatte der Zwischenfall den Bruder argwöhnisch gemacht. Jedenfalls war Miss Alavi jetzt allein. »Es ist alles bereit für die Fahrt nach Zahidan.«, sagte sie, »Ich kann nicht fahren. Mahtab ist nicht mehr bei mir.« »Ich werde Mahtab finden.« Wie konnte sie das?!!! »Unternehmen Sie bloß nichts, was Misstrauen wecken könnte.« Sie nickte. Dann war sie verschwunden, auf dieselbe rätselhafte Weise, wie sie gekommen war. Ich setzte die Scheibe wieder ein, versteckte das Messer und sank wieder in eine Lethargie, in der ich mich fragte, ob diese Episode gerade nur ein Traum gewesen war.
Gott musste der Welt befohlen haben, sich langsamer zu drehen. Jeder Tag hatte mindestens achtundvierzig, wenn nicht sogar zweiundsiebzig Stunden. Dies waren die einsamsten Tage meines Lebens. Es war eine anstrengende Arbeit, irgendetwas zu finden, das mir die Zeit vertrieb. Im Geiste arbeitete ich an einem komplizierten Plan, wie ich mit Mahtab in Verbindung treten konnte. Aus allen möglichen Essensresten, die ich finden konnte, und mit dem, was Moody nach Hause brachte, versuchte ich, Mahtabs Lieblingsgerichte zu kochen und sie ihr durch ihren Vater zukommen zu lassen. Bulgarischer Pilav war eines ihrer Lieblingsgerichte. Mit ein paar Stückchen weißen Garns gelang es mir, ein winziges Paar Stiefel für ihre Puppe zu stricken. Dann erinnerte ich mich an ein paar Hemdblusen mit hohem Kragen, die sie kaum trug, weil sie ihr am Hals zu eng waren. Ich schnitt die Kragen ab, damit die Blusen bequemer wurden,
Weitere Kostenlose Bücher