01 - Winnetou I
krachte. Es war mir in diesem Augenblick des Zornes ganz gleichgültig, ob er dabei etwas brach oder nicht. Noch während er durch die Luft flog, riß ich meinen zweiten, noch geladenen Revolver heraus, um etwaigen Angriffen schnell zuvorzukommen. Er richtete sich wieder auf, blitzte mich mit vor Wut funkelnden Augen an, zog sein Messer und rief:
„Das sollt Ihr mir bezahlen! Ihr habt mich schon einmal geschlagen, und ich werde dafür sorgen, daß Ihr Euch nicht zum drittenmal an mir vergreifen könnt.“
Er wollte einen Schritt auf mich zu tun; da hielt ich ihm meinen Revolver entgegen und drohte:
„Noch einen weiteren Schritt, und ich jage Euch eine Kugel in den Kopf! Weg mit dem Messer! Bei ‚drei’ schieße ich, wenn Ihr es in der Hand behaltet. Also: eins – zwei – und – – –“
Er hielt das Messer fest, und ich hätte wirklich geschossen, wenn auch nicht ihm in den Kopf, sondern ich hätte ihm zwei oder drei Kugeln durch die Hand gejagt, denn es galt, mir Respekt zu verschaffen; aber ich kam glücklicherweise nicht dazu, denn in diesem kritischen Augenblick erscholl eine laute Stimme:
„Gents, seid ihr toll! Was könnte es für einen guten Grund geben, daß Weiße sich einander die Hälse brechen! Haltet ein!“
Wir blickten in die Richtung, in welcher diese Worte gesprochen wurden, und sahen einen Mann hinter einem Baum hervortreten. Er war klein, hager und buckelig und fast wie ein Roter gekleidet und bewaffnet. Man konnte nicht recht unterscheiden, ob er ein Weißer oder ein Indianer war. Sein scharf geschnittenes Gesicht deutete auf das letztere, während die Farbe seines jetzt allerdings von der Sonne verbrannten Gesichtes wahrscheinlich früher weiß gewesen war. Er trug den Kopf unbedeckt; das dunkle Haar hing ihm bis auf die Schultern herab. Sein Anzug bestand aus einer indianischen Lederhose, einem Jagdhemd aus demselben Stoff und einfachen Mokassins. Bewaffnet war er nur mit einem Gewehr und einem Messer. Sein Auge blickte außerordentlich intelligent, und er brachte trotz seiner Mißgestalt keineswegs einen lächerlichen Eindruck hervor. Es sind ja überhaupt nur rohe und unverständige Menschen, welche über einen unverdienten körperlichen Fehler oder Mangel die Nase rümpfen können. Zu dieser Sorte gehörte Rattler, denn als er den Ankömmling erblickte, rief er lachend aus:
„Halloo, was kommt denn da für ein Zwerg und Mißgeschöpf gelaufen! Darf es denn hier im schönen Westen auch solche Leute geben?“
Der Fremde maß ihn von unten bis oben und antwortete in ruhigem, überlegenem Ton:
„Dankt Gott, wenn Ihr gesunde Glieder habt! Übrigens kommt es nicht auf den Körper, sondern auf das Herz und den Geist an, und da sage ich Euch, daß ich eine Vergleichung mit Euch nicht zu scheuen brauche.“
Er machte eine geringschätzige Bewegung mit der Hand und wendete sich dann an mich:
„Habt Ihr Kraft in den Knochen, Sir! Das Experiment, einen so schweren Menschen so weit durch die Luft fliegen zu lassen, macht Euch so leicht niemand nach. Es war wirklich eine Wonne, zuzuschauen.“
Dann stieß er den Grizzly mit dem Fuß an und fuhr in bedauerndem Ton fort:
„Also das ist der Kerl, den wir haben wollten. Wir sind zu spät gekommen; das ist schade!“
„Ihr wolltet ihn erlegen?“ fragte ich.
„Ja. Wir fanden gestern seine Fährte und sind ihr nach, kreuz und quer, durch dick und dünn, und nun wir an Ort und Stelle kommen, müssen wir leider sehen, daß die Arbeit schon getan ist.“
„Ihr redet in der Mehrzahl, Sir; seid Ihr nicht allein?“
„Nein. Es sind zwei Gentlemen bei mir.“
„Wer?“
„Werde es Euch dann sagen, wenn ich erfahren habe, wer Ihr seid. Ihr wißt, daß man in dieser Gegend nicht vorsichtig genug sein kann. Man stößt da mehr auf böse als auf gute Menschen.“
Er streifte dabei Rattler und dessen Leute mit seinem Blick und fuhr dann freundlich fort:
„Übrigens sieht man es einem Gentleman gleich an, daß man ihm trauen darf. Habe den letzten Teil Eurer Unterhaltung gehört und weiß also so leidlich, woran ich bin.“
„Wir sind Surveyors, Sir“, erklärte ich ihm. „Ein Oberingenieur, vier Surveyors, drei Scouts und zwölf Westmänner, welche uns gegen etwaige Angriffe zu beschützen haben.“
„Hm, was dieses anbelangt, so scheint Ihr ein Mann zu sein, der keinen Beschützer braucht. Also Surveyors seid ihr. Ihr befindet euch hier in Tätigkeit?“
„Ja.“
„Was vermeßt ihr da?“
„Eine Bahn.“
„Die
Weitere Kostenlose Bücher