0176 - Der Haß der Verdammten
erklärte die Frau.
Sie ging zur Tür. »James, komm bitte mal her, da ist ein Herr von der Polizei.«
Ein großer schlanker Mann im Overall kam herein. Sein dunkles Gesicht war an manchen Stellen noch rußgeschwärzt. Er reichte mir die Hand, nahm seine Mütze ab und zog sich einen Stuhl heran.
An der Tür stand ein junger Bursche. Er schien dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein.
»Komm rein, Joe«, sagte der alte Lonegan. »Das ist mein Sohn.«
Auch der Junge machte einen guten Eindruck. Er trug einen Overall wie der Vater und setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür.
Merkwürdig, dachte ich. Keiner dieser drei Menschen erinnert auch nur im Entferntesten an die schöne Frau in der Villa drüben in Riverdale.
»Hast du es ihm gesagt?«, fragte der Mann seine Frau.
Sie schüttelte den Kopf.
Da ich ihn fragend anblickte, erklärte er: »Mary ist unsere Adoptivtochter. Aber sie weiß es nicht. Wir haben sie aus dem Waisenhaus geholt, als sie zwei Jahre alt war. Weil wir gerne ein Kind haben wollten.«
Ich blickte auf den Jungen.
Der Vater lächelte schwach. »Ja, und dann kam Joe später doch noch. Wir haben Mary wie unsere Tochter behandelt. Sie hat es gut gehabt, soweit wir ihr von dem, was eine Arbeiterfamilie dem Leben abgewinnen kann, etwas bieten konnten. Und sie war ein gutes Kind. Seit sie verheiratet ist, lebt sie für sich. Wir sind ihr deswegen nicht böse. Und was mit Harry und Mrs. Wilkerton passiert ist, wir können es nicht begreifen.«
»Hatten Sie gar keinen Kontakt zu den Wilkertons?«
Der Mann fuhr sich durch die grauen Haare. »Doch, Mister Wilkerton kommt öfter zu uns.«
»Mister Wilkerton?«, fragte ich verblüfft, denn ihm hätte ich es eigentlich am wenigsten zugetraut.
»Ja«, sagte die Frau. »Er kommt viel öfter als Mary. Und immer bringt er jedem ein Geschenk mit. Er hat Joe im Juli sogar ein Motorrad gekauft. Er bleibt nie lange, sitzt da auf dem Stuhl, trinkt eine Tasse Tee, spricht mit Vater und uns ein paar freundliche Worte, dann geht er wieder. Beim ersten Mal, als er hier war, haben wir hundert Dollar unter einem Teller gefunden. Wir haben sie ihm zurückgeschickt. Seitdem hat er kein Geld mehr hiergelassen. Aber er kam trotzdem.«
Der Mann fügte hinzu: »Er hat Joe viel geschenkt, Anzüge, Schuhe, Hemden, einen Fußball, Sportsachen und immer hat er eine Stange Zigaretten mitgebracht.«
***
Als ich ging, nahm ich das Gefühl mit, dass die Lonegans eine anständige Familie seien. Und im Stillen zog ich vor dem aufrechten alten Wilkerton den Hut. Da hatte er insgeheim gutmachen wollen, was seine Schwiegertochter durch falschen Stolz zerstört hatte.
Am späten Nachmittag war ich im Büro des Tabakfabrikanten Jimmy Roland. Ein eleganter Mann, Ende der dreißig, und sehr weltgewandt.
Er hatte von dem Mord in der Irwin Avenue gelesen und an die Wilkertons ein Beileidstelegramm geschickt.
»Ich begreife das nicht. Wer kann nur ein Interesse daran gehabt haben, die Frau zu töten und den Jungen zu entführen?«
»Der Entführer beabsichtigte ein Lösegeld zu erpressen. Nur der Tod der Frau ist rätselhaft«, sagte ich.
Roland nickte. »Ich war ehrlich bestürzt.«
Nicht viel anders erging es Patrick Owen. Der steinreiche Zündholzfabrikant empfing mich in seiner Villa am Henry Hudson Parkway. Er machte einen sehr guten Eindruck auf mich und versicherte mir, dass er nicht die leiseste Ahnung habe, wer hinter der Sache stecken könnte.
Der Juwelier Jeffries war mit seiner Frau schon am Freitagvormittag in der Irwin Avenue gewesen und hatte den Wilkertons sein Beileid ausgesprochen. Ich traf ihn im Geschäft in der Fifth Avenue. Der kahlköpfige Herr bot mir einen etwas altmodischen Sessel an und unterhielt sich eine halbe Stunde mit mir. Als wir auf seinen Sohn zu sprechen kamen, schien sich eine merkwürdige Unruhe bei ihm einzustellen. Seine Frau kam später auch noch und ließ uns einen Kaffee bringen.
Ich beschloss den siebenundzwanzigjährigen Ted Jeffries etwas näher aufs Korn zu nehmen und verabschiedete mich von dem Ehepaar.
Mein letzter Besuch an diesem Tag galt dem Reporter Floyd Hutkins. Ich traf ihn nicht zu Hause an und machte mich deshalb auf den Weg zu der Zeitung, bei der er beschäftigt war.
Auch dort traf ich ihn nicht an.
»Er ist dienstlich unterwegs«, verkündete mir eine bebrillte Sekretärin.
»Wann wird er zurückerwartet?«
Sie lächelte mokant. »Wer kann das sagen. Er ist Reporter. Niemand weiß, wo er
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