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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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kann alles schönreden. Das war doch schon als Kind meine große Nummer«, erinnerte sich Erwin. »Lachst du, Clara, oder weinst du?«
    »Wie soll ich das wissen?«
    Die Schriftstellerelite, die nach der Bücherverbrennung ihre Heimat fluchtartig verlassen hatte, quälte sich, um im Ausland Fuß zu fassen – die meisten von ihnen vergebens. Bert Brecht lebte in der Schweiz, Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Joseph Roth waren in Frankreich. Kurt Tucholsky, der die Leser der »Weltbühne« mit seinen Kritiken, Essays und Gedichten begeistert hatte, litt in Schweden. Denjenigen, die ihn noch auf Umwegen lesen konnten, teilte er mit, er wäre »ein aufgehörter Deutscher«. Angesagt in Deutschland war nun die linientreue, völkisch-nationale Dichtung, die deutsches Blut in Wallung brachte und deutsche Erde ehrte.
    »Kennst du Hans Baumann, Heinrich Anacker oder Kurt Eggers?«, fragte Erwin.
    »Was für eine Frage! Wetten, dass noch nicht mal Gott sie kennt.«
    »Gott kennt man ja auch nicht mehr.«
    Clara und Erwin hatten den Sonntag zum »Tag der Redefreiheit für Juden, Radfahrer und Mischlinge« erklärt. Aktiv teilnehmen durften allerdings nur Mitglieder der Familien Sternberg und Feuereisen. Selbstverständlich auch Josepha. Die aber brauchte den Sonntagvormittag, um das Mittagessen zu kochen und jede Woche aufs Neue zu verkünden, sie wolle sich eher kreuzigen lassen, als in die Kirche zu gehen. Den freien Nachmittag nutzte Josepha, um ihre Wäsche und Strümpfe zu stopfen – und Erwins zerschlissenen Hemden neue Kragen zu verpassen.
    In einer Bäckerei im Sandweg, in der die Besitzerin sie so freundlich begrüßte wie vor 1933 und jedes Mal nach Claudette und manchmal auch nach Fanny und Salo fragte, holte Clara Hefestückchen und Bienenstich. Aus dem väterlichen Vorrat bezog sie trotz mütterlichen Protestes Südtiroler Gewürztraminer, den Erwin feierlich zum »Saft des großen Vergessens« ernannt hatte. Alle vier Monate siedelte außerdem eine Flasche Armagnac vom Keller in den vierten Stock um. Der Armagnac war noch ein Überbleibsel aus der Zeit, als der Handelsmann Sternberg solvente Geschäftspartner beim Abschluss eines guten Geschäfts unter dem flämischen Leuchter in seinem Arbeitszimmer bewirtete. Zum Armagnac aus den dickbäuchigen Gläsern ihres Pforzheimer Großvaters servierte Clara ihrem Bruder sämtliche Zeitungen, die er an den Wochentagen nicht mehr so gründlich wie in der Zeit unmittelbar nach seiner Entlassung von der Städelschule studieren konnte.
    Für einen geringen, eher symbolischen Lohn, aber mit sehr viel dankbarer Anerkennung bedacht, die seinem Stolz und seinem Selbstbewusstsein immens wohltaten, hatte sich Erwin schon seit einem Jahr ein neues Tätigkeitsfeld erschlossen. In einem zionistischen Jugendklub mit stetig wachsendem Zulauf bemühte er sich, Jugendlichen, die ursprünglich hatten studieren wollen, handwerkliche Berufe als neue Lebensperspektive schmackhaft zu machen.
    »Ich kann jetzt auch selbst einen Nagel in die Wand schlagen«, pflegte er zu sagen, »und in der Theorie kann ich auch schon recht gut einen Pflug reparieren und einen Bewässerungsschlauch flicken. Und den palästinensischen Hühnern könnte ich bestimmt schöne deutsche Märchen erzählen, damit sie mehr Eier legen.«
    Auf diesen Satz pflegte Claudette zu lauern, als wäre sie noch zehn Jahre alt. Zu Geburtstagen und anderen fröhlichen Gelegenheiten war der unermüdliche Onkel Erwin mit einem dreieckigen Hut aus Zeitungspapier auf dem Kopf hinter der Wohnzimmergardine hervorgesprungen, und meistens hatte er das Lied von den frech gewordenen Römern vorgetragen.
    Erwin schob die Holzschale mit den Äpfeln zur Seite und breitete die »Frankfurter Zeitung« auf dem niedrigen Couchtisch aus. »Von zwei bemerkenswerten Entwicklungen ist zu berichten«, kündigte er an. »Welche Meldung möchtet ihr zuerst hören, eine selbst für die Nazis unglaublich dumme oder ein Stück aus dem neuen Rattenfängerlied?«
    »Die dumme klingt lustiger«, meinte Alice.
    »Ist sie auch. Unser verehrter Oberbürgermeister Friedrich Krebs hat alle städtischen Verwaltungsämter angewiesen, bestimmte Fremdworte durch deutsche Ausdrücke zu ersetzen.«
    »Und das bedeutet was?«, fragte Alice.
    »Ein Risiko«, dozierte Erwin und nahm noch einmal seinen Bühnenplatz im Türrahmen ein, »ist künftig als eine Gefahrenwahrscheinlichkeit zu bezeichnen. Und statt Omnibus hast du Großkraftwagen zu sagen. Auch das

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