02 Die Kinder der Rothschildallee
Wort Finanzierung ist unserem verehrten Führer zu fremd. Er will lieber das urdeutsche Wort Mittelbeschaffung hören.«
»Und ich will jetzt lieber das neue Rattenfängerlied hören«, sagte Clara.
»Gut. Ich muss nur noch mein Auto in die Kraftwagenhalle stellen. Die Nazis«, berichtete Erwin, »haben soeben die staatlichen Ehestandsdarlehen erhöht. Graf Schwerin von Krosigk heißt der Menschenfreund, der auf diese nicht alltägliche Art die Arbeitslosigkeit bekämpfen will. Falls du noch nie von ihm gehört hast: Es handelt sich um unseren verehrten Reichsfinanzminister.«
»Und was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
»Die Frauen müssen sich verpflichten, nach der Heirat nicht mehr berufstätig zu sein. Sie sollen den fleißigen deutschen Männern nicht mehr die Arbeit wegnehmen.«
»Dann sollten wir umgehend Claudette und Alice auf die Liste setzen lassen. Ohne Schulabschluss ist ja für sie nicht mehr an einen halbwegs vernünftigen Beruf zu denken.«
»Fehlanzeige. Das ist genau wie bei der Habilitation. Das Darlehen wird nur Frauen gewährt, die nachweislich arischer Abstammung sind.«
»Sind ganz schön eigenbrötlerisch, die Herrschaften. Gut, melden wir ersatzweise Anna an. Die hat zwar einen jüdischen Vater, aber soviel ich weiß, ist das auf keinem Amt je publik gemacht worden. Das war ungeheuer vorausschauend von unserem Erzeuger.«
»So rücksichtsvoll ist Vater immer«, erklärte Alice mit überraschender Leidenschaftlichkeit. »Zu all seinen Kindern.«
»Zu seinen Töchtern«, schränkte Erwin ein.
Der Einsturz ihrer Welt hatte Alice noch auffallender verändert als ihre Geschwister und Claudette. Die vielen Schulfreundinnen, die begeistert Frau Betsys Gastfreundschaft und Großzügigkeit genossen und nur im Verborgenen ihren Neid genährt hatten, gab es nicht mehr und schon gar nicht die von Alice vergötterte Deutschlehrerin. Ihre Kolleginnen und Kollegen hatten sie mit Schimpf und Schande von der Schule gejagt. Fräulein Kranichstein mit dem flammend roten Haar war aus Alice’ Leben verschwunden, als wäre sie nie gewesen. Eine weitere Wunde, die in Alice’ Seele nie verheilen würde, war die Erinnerung an die beherzten Sportkameradinnen vom Turnverein. Jene, die Alice als Zehnjährige ewige Treue und »Freundschaft bis zum Tod« geschworen hatten, hatten »das Juddemädche« noch schneller aus ihrem Verein geekelt als der neue Deutschlehrer sie aus der Schule. Die schmucken Tanzstundenkavaliere und die wohlerzogenen Abiturienten, die sich um Fräulein Sternbergs Gunst gerissen und ihr zu Walzerklängen Zärtlichkeiten und Treuebekundungen ins Ohr geflüstert hatten, wechselten nun die Straßenseite, wenn sie sie sahen.
Alice, die schwarzhaarige Rose mit den azurblauen Augen, die sich ihr Leben lang in Bewunderung gesonnt hatte, grämte sich sehr, dass das Schicksal ausgerechnet sie dazu bestimmt hatte, eine Jüdin in Deutschland zu sein. Sie haderte mit ihren Wurzeln und schämte sich, kaum dass der Gedanke ihr kam, ihrer Illoyalität gegenüber dem Glauben ihrer Väter. Sie träumte von einem Leben an der Seite eines Mannes, den ihre Familie nie kennenlernen würde, schalt sich eine Verräterin und wusste nicht, wie sie Buße tun sollte. Wenn sie die Augen schloss, sah sie Afrikas Sonne aufgehen, wenn sie zum Fenster hinausschaute, wehten auf der gegenüberliegenden Seite Hakenkreuzfahnen. Anfang des Jahres versuchte Alice, mit Clara über den Widerstreit ihrer Gefühle zu reden, doch schließlich war es, wie sonst auch, Erwin, mit dem sie darüber sprach.
»Das kannst du gerade gebrauchen«, sagte er, »dir selbst Schuldgefühle anzuhexen und dich aufzugeben, weil du niemanden mehr hast, mit dem du dein Leben teilen kannst. Überlass das Hassen denen, für die der Hass Lebenselixier ist. Du machst es schon ganz richtig, wenn du dich an meine Lieblingsnichte hältst. Claudette hat einen guten Kopf. Und ein gutes Herz.«
Durch das gemeinsame Erlebnis von Ausgrenzung, Schock, Scham und Einsamkeit waren sich Alice und Claudette sehr nahe gekommen. »Die drei Jahre Altersunterschied spielen überhaupt keine Rolle«, versicherte Alice ihrer Mutter, die die in der Not entstandene Freundschaft mit ihrer üblichen Skepsis abzuwerten versuchte. »Claudette und ich sitzen im selben Boot. Wenigstens das wird dir doch einleuchten. Übrigens ist Claudette wesentlich reifer als andere Mädchen in ihrem Alter. Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern, was ich mit meinen sogenannten
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