02 Die Kinder der Rothschildallee
Mitschülerinnen gemeinsam hatte. Worüber haben wir um Himmels willen geredet?«
»Über den Weihnachtsmann«, sagte Erwin lakonisch.
»Und bedenke, dass ein besonders inniges Verhältnis zwischen Tante und Nichte in unserer Familie Tradition hat«, steuerte Clara bei. »Wenn ich mich recht erinnere, kennt sich unser Vickylein da am besten aus.«
Frau Betsy wusste, wann es an der Zeit war, auf einen Scherz einzugehen. »Ich hätte meiner ersten Regung nachgeben und Clara und dich zur Adoption freigeben sollen«, sagte sie.
»Dann hättest du nicht erlebt, wie Clara, die Selbstlose, ihre mörderische Eifersucht doch noch bezwungen hat. Wenn du dich erinnerst, fand es meine kluge Schwester zutiefst unmoralisch, dass du im Alter von dreiundvierzig Jahren noch ein Kind gekriegt hast. Wie lange hat das eigentlich gedauert, Clara, ehe du Mutter verziehen hast?«, konterte Erwin.
»So etwa zwanzig Jahre würde ich sagen. Ich war wirklich ein unleidliches Geschöpf.«
»Es gibt Schlimmere«, fand Betsy.
Den dritten Sonntag im März verbrachte Alice nicht nur deshalb im vierten Stock, um mit Claudette Kaffee, Bienenstich und die Hefestückchen vom Sandweg zu teilen oder um die übliche sonntägliche Langeweile und den Kummer, dass sie nicht mehr jung und fröhlich sein durften, zu vertreiben. Im Frühjahr 1935 war es bei Alice nicht mehr allein mit Rat und Lebenshilfe getan. Sie war in Herzensnot.
Wie kleine Mädchen, die von den Eltern zu Stubenarrest verurteilt werden und die sich nicht zu beschäftigen wissen, hatten sie und Claudette über eine Stunde auf der Fensterbank gesessen. Sehnsüchtigen Blickes hatten beide in die Pfützen der Rothschildallee gestarrt, auf nassen Dächern die Tauben gezählt und wie alte Menschen geseufzt, die nicht mehr leben, sondern das Leben geschehen lassen. Verzweifelt hatte sie sich in die Welt zurückgewünscht, die die Nazis ihnen genommen hatten – zunächst eine jede für sich und sich mit den üblichen Andeutungen begnügend, danach im Flüsterton, doch nicht mehr mit der sonstigen Scheu, von ihren Ängsten und Enttäuschungen und der großen Hoffnung zu sprechen, dem Leben zu entkommen, das sie seit zwei Jahren führten.
Erst durch die heitere Stimmung nach Erwins Hitlerparodie fand Alice jedoch den Mut, nicht nur Claudette Einblick in ihre Gefühlswelt zu gewähren. Zwar wurde sie bereits beim ersten Wort so mädchenhaft rot wie ein Backfisch, aber dann fragte sie doch mit sehr fester Stimme »Wo ist eigentlich Mafeking? Oder wie immer man das verdammte Wort ausspricht.«
»Keine Ahnung«, erwiderte ihr Bruder, »wahrscheinlich im Hottentottenland. Wozu musst du das denn wissen? Ich dachte immer, Mädchen sammeln keine Briefmarken.«
»Gar nicht so übel für einen, der das Schulgeld nicht wert war, das er seinen Vater gekostet hat«, konterte Clara. »Mafeking liegt an der Grenze zur Provinz Transvaal, am Zufluss des Molopo. In Südafrika. Das weiß doch jedes Kind. Jedenfalls war das zu meiner Zeit so.«
»Um Himmels willen! Was ist in dich gefahren, Madame Blaustrumpf? Wer kennt sich denn noch in Südafrika aus? Ich nehme an, unser verehrter Kaiser war der Letzte. Der war ja ganz heiß auf den Burenkrieg.«
»Deine Schwester auch«, erklärte Clara.
Erwin salutierte mit zwei Fingern und sah wie der vierzehnjährige Lauser aus, der sich in Baden-Baden an alte Damen herangeschlichen und ihre Hüte mit Kletten beworfen hatte. Erwin knuffte seine Schwester. »Ich bin der berüchtigte Klettenmax«, brummte er mit heiserer Großvaterstimme. Sie kicherte wie damals und schlug sich auf den Mund. Einen Moment genossen sie beide den Gedanken, dass die Geschwisterliebe ihr Leben zu einem besonderen gemacht hatte, doch dann verlosch das Strahlen in Erwins Augen so plötzlich, wie es sichtbar geworden war.
»Und jetzt«, sagte er und rückte von Clara ab, »fragen wir mal Fräulein Alice, was in aller Welt Mafeking mit ihr zu tun hat. Sag nur, du willst dorthin auswandern, kleine Schwester, und einem Missionar den Haushalt führen? Soviel ich weiß, laufen die Löwen dort noch frei über die Straße. Kein Mensch spricht anständiges Deutsch, und bestimmt wird auch auf dem Tafelberg nicht getafelt.«
»Lass doch mal den Quatsch. Ja, du hast es erfasst. Ich würde lieber heute als morgen nach Südafrika auswandern. Wenn ich nur wüsste, wie das geht und woher man das Geld für die Schiffspassagen nehmen soll. Leon Zuckermann ist seit einem halben Jahr in Mafeking. Sein Bruder
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