02 Die Kinder der Rothschildallee
Jakob ist schon Ende 1933 durch einen Cousin dorthin gelangt. Als Erstes haben die beiden Leon eine Stelle in der Nähe von Mafeking verschafft. In einer Goldmine. Das Ganze ist schrecklich plötzlich gekommen. Für uns beide.«
Zunächst konnte sich weder Clara mit dem guten Gedächtnis an den Namen erinnern noch Erwin mit der Gabe, sich nach nur wenigen Andeutungen ein Bild zu machen. »Du meinst doch nicht etwa den jungen Mann, um dessentwillen du jeden Schabbes in die Synagoge gerannt bist?«, sagte Clara schließlich. »Wie lange ging das eigentlich?«
»Ja, wen denn sonst? Mein Vorrat an jüdischen Jungen ist ja nicht riesig. Und es ging bis vor sechs Monaten.«
»Mein Gott! Ich dachte, der Bursche wollte Kinderarzt werden. Das hast du uns jedenfalls erzählt.«
»Wollte er auch. Aber vielleicht habt selbst ihr erfahren, dass Deutschlands Universitäten die Juden davongejagt haben. Sowohl die Studenten als auch die Professoren. Mit Leons Studium ist es natürlich nichts geworden.«
»Mein Gott, Mafeking«, sagte Erwin. »Vor zehn Minuten wusste ich nicht, wo das liegt, und jetzt will meine kleine Schwester dorthin auswandern.«
Er stand auf und ging zum Fenster, bohrte seine rechte Hand in die Hosentasche und schüttelte den Kopf. Clara überlegte, ob ihr Bruder schon immer so schmale Schultern gehabt hatte. Und Wangenknochen, die den Eindruck machten, als würden sie bald durch die Haut stoßen. Sie fröstelte, doch sie rieb energisch die Gänsehaut auf ihren Armen fort, und ohne dass es die anderen merkten, schluckte sie den Schmerz hinunter.
»Wie haben wir es doch weit gebracht«, resümierte Erwin. Er holte einen Bleistift aus seiner Tasche und einen Papierblock, der auf dem Couchtisch lag, und zeichnete mit kräftigen, wütenden Strichen eine beängstigende Höllenfratze. »Werden als stramme deutsche Patrioten erzogen, die selbst nachts ihre Hände an die Hosennaht zu legen haben, und bei Tag brennen wir darauf, für das Vaterland zu sterben. Und dann betritt so ein Psychopath aus Österreich die Bühne und befiehlt seinen irren Jüngern: ›Jagt die Juden aus dem Land‹‚ und schon reden wir vom Auswandern. Liebst du ihn, Alice? Noch wichtiger: Liebt er dich?«
»Wie soll sie denn das wissen?«, fuhr Clara ihren Bruder an. »Alice ist gerade erst zwanzig. Da weiß man kaum, ob man Mädchen oder Junge ist, geschweige denn etwas von der Liebe.«
»Wenn ich mich richtig erinnere, warst du in ihrem Alter schon ein Fräulein Mutter und bei allen anständigen Bürgersfrauen ziemlich untendurch.«
»Danke«, sagte Clara zerknirscht. »Das habe ich verdient. Du brauchst dich nicht taub zu stellen, Claudette, und auch nicht rot zu werden. Deine Mami hat wenigstens einen guten Charakterzug. Sie gibt ihre Fehler zu. Manchmal verwechsle ich die Zeiten und die Ereignisse in meinem Leben. Und das meiste andere auch. Für einen Moment erschien mir zwanzig so verdammt jung.«
»Ich würde«, riet Erwin, »mal mit Vater sprechen, Alice. Am Ende ist er gar nicht so, wie wir alle denken. Ich hab das mal vor Jahren erlebt. Heute werden Ehen aus ganz anderen Gründen geschlossen als aus Liebe oder weil der Bräutigam aus einer guten Familie stammt und ein Bankkonto hat, das den Schwiegervater berauscht. Ein Mann, der im Ausland lebt, ist heute mehr wert als ein Sack voll Gold. Das kannst du mir glauben. Ich hab ja täglich mit dem Thema zu tun. Immerhin bringe ich nicht aus purem Jux junge Männer, die es auf eine akademische Laufbahn abgesehen hatten, zu dem Entschluss, sich für ein Land zu interessieren, in dem früher Milch und Honig flossen und heute die Disteln wuchern. ›Nächstes Jahr in Jerusalem‹ ist nicht mehr nur der fromme Wunsch der Juden zu Pessach. Das Wort hat eine reale Bedeutung.«
Alice stöhnte – nicht mehr theatralisch wie als junges Mädchen, sondern als eine Mutlose, die es aufgegeben hat, nach einem Ausweg zu suchen.
»Ich hab ja versucht mit Vater zu sprechen«, berichtete sie, »ohne allerdings Mafeking oder Leon zu erwähnen. Ich hab ihn nur ganz allgemein gefragt, ob er es nicht gescheiter für mich findet, aus Deutschland wegzugehen, weil das Leben hier ja für uns immer enger und hoffnungsloser wird. Doch er hat abgewinkt. Mit beiden Händen und so stur wie in alten Zeiten. Ich hab richtig darauf gewartet, ihn sagen zu hören: ›Ein junges Mädchen gehört ab zehn Uhr abends nicht mehr auf die Gasse.‹«
»Das war Mutters Spruch. Vater hat immer gesagt: ›Solange du
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