02 Die Kinder der Rothschildallee
deine Füße unter meinen Tisch stellst, wird gemacht, was ich will.‹ Heute bin ich wieder in dem Stadium, dass ich mein tägliches Brot nicht verdiene und kuschen muss. Alle sind wir es. Außer Anna natürlich, und die hat nie auf dem Recht bestanden, ihre Meinung zu äußern. Versuch es mal mit konkreten Angaben, Alice«, schlug Erwin vor. Er grinste, als hätte er einen guten Witz gemacht, doch seine Augen und auch seine Stimme bezeugten Anteilnahme. »Vater hat zum Glück ja immer den Drang gehabt, sich so genau wie möglich zu informieren, und Scheuklappen hat er nie getragen. Na, sagen wir, wenigstens nicht mehr, nachdem unser tapferer Kaiser mit der Holzhackeraxt in sein Exil nach Doorn gereist ist. Ich wette, Johann Isidor Sternberg, der Handelsherr mit der guten Nase und dem glücklichen Händchen, ist besser im Bilde über das, was in Deutschland geschieht, als viele andere, die sich im Irrglauben befinden, sie wüssten alles. Zähl nur mal die Zeitungen, die im Herrenzimmer herumliegen, und schau dir sein Gesicht an, wenn er sich unbeobachtet glaubt.«
Erwins Mutmaßungen trafen ins Schwarze. Sein fünfundsiebzigjähriger Vater war nicht zu alt und schon gar nicht zu müde, um zu sehen und zu hören, was geschah – und um das Gesehene und Gehörte zu deuten. Er spürte Tag für Tag, dass im Jahr 1935 mehr von ihm verlangt wurde, als den Tod seiner Illusionen zu beklagen und auf Wunder zu hoffen.
»Ich kann mich nicht länger weigern, mich der Zukunft zu stellen«, sagte er zu Doktor Meyerbeer. Die beiden machten ihren wöchentlichen Spaziergang um den Vierwaldstätter See im Frankfurter Stadtwald, wo sie sich unbeobachtet und vor allem frei fühlten, zu sagen, was sie litten.
»Sag nur, auch du willst Gift von mir, mein Guter. Du glaubst gar nicht, wie oft ich danach gefragt werde. Manchmal komme ich mir vor wie ein öffentlich bestellter Todesengel. Zyankali statt Zucker und Zimt.«
»Das glaube ich dir aufs Wort. Gott schütze mich davor, dass ich eines Tages auch so weit bin und vergesse, was ich meiner seligen Mutter versprochen habe. Mit Zukunft meinte ich, dass ich wenigstens den Versuch machen muss, meinen Kindern zu einer solchen zu verhelfen. Die Einschläge kommen immer näher. Stück für Stück.«
Seit einem Jahr konnten Auswanderer nur noch zweitausend Reichsmark in ausländische Devisen umtauschen. Zeitungsverleger mussten ihre »arische Abstammung« bis ins Jahr 1800 nachweisen. Juden wurden nicht mehr zu den Apothekerprüfungen zugelassen. Immer beklemmender wurde die Situation der Kinder, die von sadistischen Lehrern und brutalen Mitschülern drangsaliert wurden. Die Beratungsstellen, bei denen Juden wirtschaftliche Hilfe ersuchten, waren überfüllt. In den Jahren 1933 und 1934 hatte bereits sieben Prozent der Mitglieder der Israelitischen Gemeinde Frankfurt Deutschland verlassen. Im Mai 1935 wurde Juden der Besuch von Kinos, Schwimmbädern und Kurorten verboten.
»Wir haben Claudette und Alice buchstäblich mit Hausarrest und Gott weiß was mehr drohen müssen«, berichtete Johann Isidor seinem alten Freund. »Die beiden waren fest entschlossen, weiter in die Schwimmbäder zu gehen. ›Als ob einer merkt, dass ich jüdisch bin, wenn ich einen Badeanzug anhabe‹, hat Claudette geweint. Schwimmen ist von Kindheit an ihre große Leidenschaft gewesen. Es hat mir das Herz gebrochen. Hoffentlich kommen meine verehrten Töchter nicht auf die Idee, nun dauernd ins Kino zu rennen, nur weil es dort dunkel ist. So dunkel kann es nirgends sein, als dass Juden geschützt wären.«
Große Warenhäuser und kleine Läden wechselten ihre Besitzer. Bereits 1933 waren mehr als fünfhundert jüdische Geschäfte abgemeldet worden. In der Hoffnung, wenigstens einen Teil ihres Vermögens zu retten, verkauften die jüdischen Bürger ihre Geschäfte und Häuser weit unter Preis. Die ehemaligen Konkurrenten verstanden es, die Gunst der Stunde optimal zu nutzen, sie hielten allzeit Ausschau nach Beute und klopften sich nach erfolgreicher Jagd selbst auf die Schulter. Sie kannten weder Skrupel noch Mitleid. Von den Kumpeln ließen sie sich als Helden feiern, ihren Frauen kauften sie Biberpelzmäntel und für den Sommer Schuhe aus Kalbsleder. Die Töchter meldeten sie im Tennisklub an, und die Söhne bekamen chromblitzende Fahrräder und vom Vater das Sprichwort »Das Glück bietet seine Hand dem Kühnen« mit auf den Lebensweg.
Auch Johann Isidor Sternberg, ein Leben lang der viel beneidete und allseits
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