02 Die Kinder der Rothschildallee
bewunderte Handelsmann, musste sich beugen. Er gab zwei von seinen drei Geschäften auf, bis ins Mark seines Selbstbewusstseins getroffen, gedemütigt, verzweifelt und in Existenzangst. Er schluckte Brom und Baldrian, um seine Nerven zu beruhigen. Mittags aß er Haferbrei, weil sein Magen rebellierte, abends trank er Magenbitter und Artischockenschnaps, im Bett drückte er die Wärmflasche auf den Leib und ein angewärmtes Kräuterkissen auf die Stirn. Wenn er nachts aufwachte, flehte er zu Gott, der Allmächtige möge ihn seinen Weg bis ans Ende gehen lassen. Von seiner Frau ließ er sich mit Johanniskraut und Kümmeltee traktieren, von Josepha mit Selleriesaft.
»Sellerie ist für die Potenz, Josepha, die braucht ein alter Jude nicht mehr. Ich bin nicht Abraham.«
Gegen die Scham, die in ihm loderte, weil das Land, das er immer noch Vaterland nannte, ihm den Stolz, die Ehre und die Heimat genommen hatte, war Johann Isidor wehrlos. Er schrie im Schlaf wie ein verstörtes Kind, morgens musste er sich zwingen aufzustehen, und in seinem Kontor in der Posamenterie berechnete er dreimal in der Woche, was ihm noch geblieben war und wie lange das für die Familie reichen würde. Niemandem außer Doktor Meyerbeer vermochte er zu sagen, was ihn vernichtete. Es war das Wissen, dass Deutschlands Juden dem Hass und der Willkür ausgeliefert waren, ohne dass sich nur eine Stimme für sie erhob, eine Hand sich ihnen entgegenstreckte. Und lähmend war die Erkenntnis, dass man niemandem mehr trauen konnte, selbst den engsten Freunden nicht.
»Ich bin schon so weit, dass ich noch nicht mal mehr mit meiner Frau sprechen kann.«
»Dazu brauchte ich nicht erst die Nazis«, erwiderte Doktor Meyerbeer. »Du musst die Dinge auch mal von der positiven Seite sehen und auch dankbar sein für das, was du gehabt hast.«
Kein Mitglied der Familie erfuhr, dass Johann Isidor sein Haus in der Wittelsbacher Allee verkauft hatte. Nur durch einen Zufall, den sein Vater beklagte, als hätte sich das Höllentor vor ihm aufgetan, kam Erwin dahinter, dass der Textilladen in der Berger Straße verkauft worden war. Mit Tränen in den Augen erflehte der Vater das Schweigen seines Sohns, und der traute sich danach nicht mehr, mit seiner Mutter allein in einem Raum zu sein. Erwin hatte sich schon als Schuljunge nicht aufs Verschleiern, auf törichte Ausflüchte und Lügen verstanden. In beiden Fällen war, was der aufrichtige Sohn nicht wusste, Pius Ehrlich der Käufer des sternbergschen Besitzes.
»Im Gedenken an die alten Zeiten hab ich Ihnen einen guten Preis gemacht, Herr Sternberg«, hatte der ehemalige Partner den Schneid gehabt zu sagen. Er war auch frivol genug gewesen, nach Ende der Verhandlung, die für beide Geschäfte genau acht Minuten gedauert hatte, seine Rechte auszustrecken. In einer Anwandlung von lebensbedrohendem Stolz hatte Johann Isidor die Hand seines Peinigers ausgeschlagen. Zu Hause hatte er sich drei Stunden bei geschlossenem Rollo in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen, und in die Kladde, in die er Verabredungen, Überlegungen, die das Geschäftliche betrafen, und tatsächliche und fällige Ausgaben eintrug, hatte er geschrieben: »Ich kann nicht mehr.« Unterschrift und Datum hatte er daruntergesetzt. Noch vor dem Abendessen war er zu Bett gegangen und um Mitternacht mit einer Gallenkolik aufgewacht – die erste in seinem Leben.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du an diesen verdammten Leichenfledderer verkauft hast?«, fragte Betsy an einem Mittwochabend im Mai. Sie war bleich, ihre Lippen zitterten, und sie klammerte sich am Besenstiel fest. »Herrgott noch mal, eine Ehefrau ist doch nicht nur für Bauchschmerzen und Gallenkoliken zuständig. Und für Kinder, die keine warmen Socken anziehen wollen, wenn sie klein sind, und als Erwachsene keine Ratschläge annehmen.«
»Also hat der gute Erwin doch gequatscht.«
»Nein, das hat er nicht, und das würde er nie tun. Aber deine Frau hat Augen im Kopf. Sie war auf der Berger Straße. Das ist nämlich noch erlaubt. Hast du wirklich geglaubt, ich würde das nicht erfahren, Johann Isidor? Übrigens, Josepha und die Kinder können auch lesen. Bald auch die kleine Fanny. Ein jeder von denen hätte mir erzählt, was geschehen ist. Zufällig war ich die Erste, die das Schild über der Tür vom Geschäft gelesen hat. Pius Ehrlich in Großbuchstaben und an der Schaufensterscheibe das Schild ›Juden werden hier nicht bedient‹. Auch in Großbuchstaben.«
»Es tut mir leid,
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