02 Die Kinder der Rothschildallee
Betsy. Noch mehr als das. Ich hab’s nur gut gemeint. Ich wollte dich schonen. Du hast genug um die Ohren mit Victorias vielen Besuchen und Alice, die ständig mit verweinten Augen rumläuft, und Claudette, die nichts sagt und alles in sich hineinfrisst, was noch viel schlimmer ist. Meinst du, ich bin aus Stein und krieg’ das alles nicht mit?«
»Mein Gott, wann wirst du endlich lernen, dass du in unserer Ehe kein Glück mit Lügen hast? Ich dachte, das hätten wir schon im Jahr 1917 geklärt. ›Dies ist die kleine Anna, meine liebe gute Betsy. Ich habe sie ganz zufällig auf der Straße gefunden, und ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum sie mir so ähnlich sieht und weshalb sie genau die gleiche Puppe und das gleiche Kleid hat wie unsere Victoria.‹«
»Also, ganz so unverfroren war ich nicht. Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt etwas gesagt zu haben.«
»Das ist es ja. Du sagst nie etwas.«
Mitte Juni hatte Claudette Geburtstag. Weil ihr keine von ihren Schulfreundinnen geblieben und sie zu gehemmt geworden war, um die jungen Leute aus dem Zionistischen Klub zu sich nach Hause einzuladen, beschloss sie, ihren Siebzehnten mit der ganzen Familie in der Wohnung der Großeltern zu feiern. »Ganz wie in alter Zeit«, hatte sie sich selbst ermuntert. »Zum Schluss spielen wir Topfschlagen und die Reise nach Jerusalem, und es gibt Negerküsse und Himbeersaft, der bitzelt.«
»Ich hab den Eindruck, du spielst jeden Tag die Reise nach Jerusalem«, sagte Johann Isidor.
Mit einem Mal mochte er auf ein offenes Gespräch mit den Kindern und seinem Schwiegersohn nicht länger warten. Seit Wochen drängte es ihn nach der Aussprache, die er als längst fällig empfand, und es schien ihm schäbig und feige, sie noch länger hinauszuzögern. »Ich hab’s mir sogar ganz genau überlegt«, wehrte er Betsys Einwände ab. »Wort für Wort. Ich war nie einer, der den Kopf in den Sand stecken und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen kann. Ich hab es satt, morgens in den Spiegel zu schauen und mich vor mir selbst zu genieren. Pius Ehrlich hat mir meine Geschäfte abkaufen können, aber nicht meinen Stolz.«
Sie saßen, wie am Sabbatabend, aber ohne Wein und Challa, die der Hausherr zu segnen hatte, um den Tisch im Esszimmer, und sie schwiegen alle und fragten nicht nach dem Grund. Nach einer Weile stand Johann Isidor auf. Er schien ruhig und beherrscht, auch ein wenig steif und, was indes nur seine Frau bemerkte, noch grauer im Gesicht als sonst. Seine Stimme aber war unaufgeregt, obwohl es seine wirtschaftliche Lage und die Zukunft waren, über die er zu sprechen hatte.
Bei Sternbergs war es für den Patriarchen nicht Brauch, seiner Frau und den Kindern Rede und Antwort zu stehen. Man merkte es an der Art, wie er seine Stirn trocken rieb– längst nicht mehr so resolut wie vor dem abrupten Ende seiner Sicherheit, nun ein Mann der neuen Verlegenheit und Beschämung. Er fürchtete das unbedachte Wort, und er fürchtete die Sentimentalität. Zweimal nahm er Zuflucht zur Rolle des Großvaters. Er ermahnte Fanny, die unzufrieden auf dem Schoß ihres Vaters schmollte, mit erhobenem Finger zur Ruhe. Salo, dem stillen, nachdenklichen Kind, strich er über den Kopf.
»Du hast ganz rote Augen«, bemerkte Fanny, »wie der Wolf.«
»Psst«, sagte ihr Vater. »So etwas sagt ein artiges kleines Mädchen nicht.«
»Ich bin kein artiges kleines Mädchen, ich bin ein großes jüdisches Mädchen. Aber ich darf nicht in den Kindergarten.«
»Die Umsätze von der Posamenterie sind um mehr als die Hälfte zurückgegangen«, begann Johann Isidor, »und ich kann abschätzen, dass es weiter bergab gehen wird. Immer schneller. Nicht nur den Bach runter, wie man so schön sagt, sondern im Wasserfalltempo.«
Einen kurzen Augenblick suchte er Schutz hinter seinem Taschentuch. Dann fing er sich wieder. Ein jeder außer den beiden Kleinen senkte den Kopf, war in seiner Angst gefangen und stumm, nur ein Schatten, der nicht mehr auf Sonne hoffte. Das Schweigen war quälend, und doch schien diese unheimliche Stille eine Stimme zu haben. Sie war fordernd und mächtig, so kraftvoll wie die Trompeten von Jericho, aber das letzte Wort behielt Johann Isidor Sternberg. Der Mann ohne Zukunft und ohne Zuversicht war es, der für den Epilog sorgte, den keiner der Anwesenden je vergessen würde.
Johann Isidor setzte sich nicht zurück auf seinen Stuhl. Er schaute sich befriedigt um wie einer, der lange nach der Lösung für ein
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