02 Die Kinder der Rothschildallee
schwieriges Problem gesucht hat und der sich endlich auf der richtigen Fährte weiß. Für einen kurzen Moment, der sich jedem offenbarte, der Zeuge dieser Verwandlung sein durfte, wurde er wieder der, der er gewesen war, der starke Mann, für den das Gesetz des Handelns ein Göttergebot war und der sich von keinem die Zügel seines Lebenswagens entreißen ließ. Nur die Stimme war nicht mehr die vertraute; sie war tief und heiser und zerrissen; sobald Johann Isidor Atem holte, hörten ihn die Seinen schluchzen.
»Der Opa weint ja«, stellte Fanny fest, »darf ein alter Mann denn weinen?«
»Bist du sofort still!«, ermahnte sie ihr Vater. »Sonst kommst du zu Josepha in die Küche.«
»Aber Josepha ist ja gar nicht in der Küche. Sie hat sich hinter der Tür versteckelt. Schon die ganze Zeit hat sie sich da versteckelt.«
»Ich verspreche«, fuhr Johann Isidor unbeirrt fort, »jedem von euch, der dieses Land verlassen will, so gut zu helfen, wie ich nur kann. Und so lange ich kann. Gott gebe mir Kraft. Ich habe endlich begriffen, was ich zu lange nicht wahrhaben wollte. Ich war taub und blind und verantwortungslos.«
»Aber warum heute, Vater? Was ist geschehen, dass du plötzlich von Auswanderung sprichst. Ich hab immer gedacht, das Wort existiert für dich überhaupt nicht.«
»Das ist das Gute an den Nazis, mein Sohn. Sie sorgen dafür, dass man jeden Tag Neues lernt. Es ist nichts Besonderes geschehen, absolut nichts. Dein Vater hat nur ein großes Bedürfnis, wieder mehr Würde und Offenheit in unser Familienleben zu bringen. Die Zeit, die ich noch habe, möchte ich nicht mit Rätselraten und Versteckspielen zubringen. Ich spreche auch in Betsys Namen. Beispiel Nummer eins: Ich finde es absolut kränkend für deine Eltern, Alice, dass du die Post von deinem Galan ins Haus seiner Eltern kommen lässt. Ich hätte an deiner Stelle wenigstens dafür gesorgt, dass Frau Zuckermann das nicht der Witwe Wormser erzählt und die nicht umgehend Nelly Grünberg informiert, mit der deine Mutter dreimal in der Woche telefoniert. Meine Gattin ist mit einem Mal besser über Goldminen in Mafeking informiert als über das Warenangebot vom Gemüsehändler in der Wiesenstraße. Und da wir schon dabei sind, heute den Tisch wieder rein zu scheuern, ich nehme an, dass es kein Zufall ist, dass Clara und Claudette so häufig im Zionistischen Klub anzutreffen sind wie früher im Kaufhaus Wronker. Hat mir jedenfalls der Vetter von Herrn Tannenbaum erzählt. Das haben wir alles schon mal gehabt. Damals war es Erwin, der seine Hand nach dem Gelobten Land ausstreckte.«
»Er streckt immer noch, Vater«, sagte Erwin, »und wie! Doch ich bekenne mich nicht schuldig im Sinne der Anklage. Ich habe meine Schwester und meine Nichte zu nichts verleitet, das nicht schon in ihnen gewesen ist. Sie lassen sich das Denken nicht ausreden. Und auch nicht das Hoffen.«
»Beruhige dich doch«, beschwor Betsy, »das ist nicht gut für dich, diese ganze Aufregung. Du hast schon ganz rote Flecken im Gesicht.«
»Mein Gott, Betsy, du siehst ja nur mein Gesicht. Wo soll ich denn sonst rote Flecken haben?«
Den nächsten Brief aus Mafeking – er traf zwei Tage nach der großen Aussprache ein – durften Clara und Claudette lesen. Claudette seufzte und sagte mit jungmädchenhaftem Neid: »Ich glaube, der liebt dich wirklich.« Unter seinen Namen hatte Leon in winzigen Buchstaben geschrieben: »Die Sonne hier macht mutig, frei und gesprächig. Und deswegen verrate ich dir, dass ich es kaum erwarten kann, dich wiederzusehen. Wir sollten die Zeit nicht mit den üblichen gesellschaftlichen Formalitäten verplempern. Keiner weiß, wie sich die Dinge entwickeln.«
Clara war so besorgt, als wäre es ihre Tochter, die einen Mann von einem anderen Kontinent angeschleppt hätte. »Lass dir ja nicht den Kopf verdrehen, Kleine«, warnte sie. »Mafeking ist für eine verwöhnte junge Prinzessin aus dem Hause Sternberg bestimmt kein geeigneter Ort, um ein Nest zu bauen. Du würdest ganz schnell nach Mutters starken Armen jammern und Vaters Geld.«
»Und nach Josephas gefülltem Kalbsbraten«, sekundierte Claudette, »und Frankfurter Grüner Soße.«
Leons Brief, geschrieben im September und mit einer detaillierten Beschreibung der Hohen Feiertage versehen, zu denen er von einem Lehrerehepaar in Johannesburg eingeladen worden war, lag bereits im Hausbriefkasten der Rothschildallee 9. Betsy brachte ihn mit der üblichen Post an, legte ihn auf den Mittagstisch
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