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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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zwischen Suppenteller und Brotgedeck und sagte nicht ohne Wehmut in der Stimme: »Ich habe schon als Kind davon geträumt, Postillon d’amour zu spielen. Leider verliebte sich keiner in meine humorlosen Schwestern mit den dicken Beinen und der langen Nase.«
    »Und ich bin von Grund auf froh, dass die leidige Schwindelei ein Ende hat«, gestand Alice. »Das ganze alberne Jungmädchengetue mit den unwürdigen Heimlichkeiten und Verschwörungen passt nicht mehr in unsere Zeit.«
    »Mütter, die ihren Töchtern raten, sich gründlich zu prüfen und sich nicht zu schnell zu binden, passen erst recht nicht mehr in unsere Zeit. Du solltest den Brief Vater zeigen. Das ist nicht das Geschwätz von einem grünen Jungen.«
    Leon schrieb, er hätte eine Anstellung als Krankenpfleger in Johannesburg in Aussicht, wo es sich leichter für Europäer leben ließe als im unwirtlichen Mafeking. »Es gibt dort eine große, alteingesessene jüdische Gemeinde«, berichtete er, »und ich habe gehört, dass die sich viel Mühe mit uns Jungen gibt, die plötzlich vor der Tür stehen. Man hat sogar Verständnis, dass Söhne aus gutem Haus weder Geld noch einen Beruf haben und stattdessen einen Packen Sorgen, von denen sich Afrika bisher nicht träumen ließ. Wärst du, meine geliebte Alice, eventuell bereit, bei einer reichen englischen Familie eine Stelle als Kindermädchen anzunehmen? Ich weiß, das muss dir sehr komisch erscheinen, aber Kindermädchen bieten im Augenblick die besten Aussichten für Frauen aus Deutschland, an ein Einreisevisum zu kommen. Unverheiratete Frauen sieht man hier nämlich gar nicht gern. Die Engländer haben Angst, sie könnten dem Staat zur Last fallen. Ich wiederum weiß nicht, wie wir heiraten sollen, wenn uns Kontinente trennen! Ich hab mich erkundigt. Selbst wenn ich dazu nach Frankfurt zurückkäme, würde man mich nicht noch einmal rauslassen, ohne ein Vielfaches von dem zu fordern, was ich bereits zahlen musste. Beziehungsweise mein Vater und meine beiden Onkel.«
    »Meine Tochter als Kindermädchen in einem fremden Land und bei wildfremden Leuten, das war schon immer mein Traum für meine Kinder«, seufzte Johann Isidor. Er faltete den Brief so sorgsam zusammen, als wäre er ein amtliches Dokument, und steckte ihn zurück ins Kuvert. »Briefmarken aus einer Welt, in der die wilden Tiere friedlicher sind als bei uns die Menschen«, murmelte er. »Ach, Alice, du weißt ja noch nicht einmal, wie man ein Kind wickelt. Wozu habe ich dich bloß jahrelang aufs Gymnasium geschickt?«
    »Damit sie mich vor dem Abitur rausekeln«, erwiderte Alice, »und meine sogenannten ehemaligen Freundinnen abends beten: ›Ich danke dir, Gott, dass du mich nicht eine Jüdin hast werden lassen.‹«
    Sie hatte kaum Hoffnung, dass ihr Vater sich mit ihrer Zukunft an der Seite eines Mannes beschäftigen würde, den er nur ein einziges Mal gesehen hatte, und sie verwünschte sich und ihre Naivität, dass sie dem Drängen ihrer Mutter nachgegeben hatte, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Bereits zwei Tage später aber begleitete Johann Isidor Sternberg seine jüngste Tochter zu der von der Israelitischen Gemeinde eingerichteten Beratungsstelle für Auswanderer. Bis er nach zweieinhalb Stunden Wartezeit aufgerufen wurde, erfuhr er von mehr Familientragödien und Katastrophen als je zuvor in seinem Leben.
    Nach diesem ersten Besuch auf der Beratungsstelle, der noch viele folgen sollten, waren dem ehemaligen deutschen Patrioten Sternberg keine Hoffnung zu vage und kein Plan zu abwegig, um der deutschen Heimat zu entkommen. »Alice«, sagte er am Abend, und er rieb sich die Hände, als hätte er ein gutes Geschäft abgeschlossen, »hat den Anfang gemacht.«
    »Nein«, widersprach Betsy, »den haben Victoria und Fritz gemacht. Fritz bemüht sich schon seit Wochen um eine Stellung in Amsterdam. In einer Export-Import-Firma, die ein Jude aus Mannheim vor zwei Jahren gegründet hat. Die alte Frau Feuereisen hat es mir bei ihrem letzten Besuch unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt.«
    »Ich habe immer gefunden, dass das Siegel der Verschwiegenheit bei dir in besten Händen ist, meine Liebe. Ach, Betsy, schon das erste Kind, das von uns geht, wird mir das Herz brechen. Ich hab immer gedacht, in jüdischen Familien zerschneidet nur der Tod die Wurzeln. Ich bin zu alt, um dazuzulernen, und nicht mehr gesund genug, um das durchzustehen.«
    »Gott hat die Juden doch nicht jahrtausendelang zu leiden gelehrt, sie auf Wanderschaft geschickt

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