02 Die Kinder der Rothschildallee
ich schon damals dem wichtigtuerischen Kerl auf dem Amt gesagt, als der versucht hat, mich so blöd auszufragen. Mit mir nicht, habe ich dem Herrn gesagt.«
»Was sollen wir tun, Josepha? Wir können uns doch nicht gegen das Gesetz stellen.«
»Von was für einem Gesetz reden Sie denn da, Herr Sternberg, oder wollen Sie eine alte Frau veräppeln? Das ganze Gequatsche von den nichtjüdischen Hausangestellten in jüdischen Häusern gilt doch nur für Frauen unter fünfundvierzig. Das weiß doch jedes Kind in Frankfurt. Oder wissen Sie nicht mehr, wie alt ich bin?«
»Um Himmels willen, Josepha, wer hat Sie denn bloß auf die Idee gebracht?«
»Maria.«
»Und Josef«, sagte Erwin. »Eins zu null für unsere Josepha.«
»Du bist wirklich ein garstiger Bub. Du kannst es einfach nicht lassen, eine alte Frau auf den Arm zu nehmen. Ich rede von der Maria von den Goldschmidts. Die vom Mauerweg. Ich kenn sie von dem netten Bäcker in der Berger Straße, wo die Frau immer so tat, als wüsste sie nicht, für wen ich die Challa kaufe. Sie ist vierundsechzig und arbeitet seit fünfundvierzig Jahren bei den Goldschmidts. Das zweite Dienstmädchen wollen sie zum Ende des Jahres entlassen. Die Goldschmidts reden wenigstens mit ihren Leuten und schleichen nicht um sie herum, bis jeder einen dicken Hals kriegt.«
»Gott gebe, dass Sie recht haben, Josepha. Sie glauben gar nicht, wie uns das zugesetzt hat. Ich werde mich gleich morgen genau erkundigen.«
»Das brauchen Sie nicht, Herr Sternberg. Herr Goldschmidt hat’s mir schriftlich gezeigt. Schwarz auf weiß. So schnell werden Sie mich nicht los. Aber wenn Sie sich gern erkundigen, dann erkundigen Sie sich doch, bitte, ob das allerneueste Gerücht stimmt.«
»Und das wäre?«, fragte Erwin.
»Ob die am 13. Oktober wirklich mit dem Eintopfsonntag anfangen. Zugunsten des Winterhilfswerks. Erbsensuppe mit Wurstresten statt Kalbsbraten. Nur über meine Leiche. Ich würde mich ja zu Tode schämen, so etwas bei uns auf den Tisch zu bringen.«
»Ich glaube, man darf auf die Wurstreste verzichten«, sagte Erwin. Er bückte sich, doch nicht schnell genug, denn eine im Raum sah doch, dass er feuchte Augen hatte.
10
OLYMPISCHE SEGNUNGEN
Februar bis August 1936
Die Welt war sich einig, dass das Olympiajahr 1936 die optimale Gelegenheit war, um Frieden und Freundschaft unter den Völkern zu fördern. Zum ersten Mal waren Athleten aus der Türkei, Bulgarien, Spanien und Australien vertreten. Lediglich einer Rede von Propagandaminister Joseph Goebbels war zu entnehmen, dass Deutschland auf längere Sicht wohl doch keine friedlichen Absichten hatte. Am 17.Januar erklärte er die im Deutschen Reich herrschende Lebensmittelknappheit für belanglos, »weil man zur Not auch einmal ohne Butter, nie aber ohne Waffen« auskommen könne. Weitsichtige Gegner des Regimes machten sich noch andere Sorgen. Es wurde befürchtet, England könnte sich enger an Nazideutschland anschließen, als dies bisher der Fall gewesen war. Im Januar war König Eduard VIII. seinem Vater Georg V., dem König der Weltkriegsjahre, auf den Thron gefolgt – der elegante junge Beau, Idol der Jugend und Hoffnung der englischen Arbeiterschaft, machte aus seiner Sympathie für Hitler keinen Hehl.
»Was kann man schon von einem Lutherischen erwarten, der mit einer Geschiedenen durchs Leben zieht!«, erklärte Josepha die Lage.
Am 4. Februar, zwei Tage vor dem Beginn der Olympischen Winterspiele, gewitterte es kräftig – zwar in den verschneiten Graubündner Bergen in der Schweiz, doch Donner und Blitz wirkten sich umgehend auf die Lage in Deutschland aus. In Davos wurde der Leiter der NSDAP-Landesgruppe Schweiz, Wilhelm Gustloff, von Gegnern des Naziregimes erschossen. »Die Schweizer tun wenigstens was«, kommentierte Betsy, und Fanny, die zu Besuch war und der nie etwas entging, was nicht für kleine jüdische Mädchen mit durchdringender Stimme bestimmt war, fragte: »Darf man alle Leute erschießen oder nur schlechte?«
Erst am Tag nach den Schüssen von Davos wurde bekannt, dass der sechsundzwanzigjährige Attentäter, der sich freiwillig gestellt hatte, David Frankfurter hieß. Er studierte Medizin und war Sohn eines Rabbiners. Bei seiner Vernehmung gab er an, er habe mit der Ermordung von Gustloff das Regime in Deutschland treffen wollen. Goebbels reagierte darauf, indem er sämtliche Veranstaltungen der jüdischen Kulturbünde im Deutschen Reich verbot, um »etwaigen Zwischenfällen vorzubeugen«.
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