02 Die Kinder der Rothschildallee
auch noch eine Heilige zu sein. Claudette muss endlich erkennen, dass Auswandern eine Gnade für uns wäre und keine Strafe.«
Zwei Wochen später begriff die Achtzehnjährige ein für alle Mal, was ihre Mutter ihr seit einem Jahr hatte klarmachen wollen. Allerdings war es ein Bericht ihres Großvaters, der für Claudettes ultimative Aufklärung sorgte.
Morgens um halb vier schellte im dritten Stock das Telefon. Drei Mal im Abstand von zwei Minuten. Johann Isidor eilte umgehend in den Salon, doch er überwand erst beim dritten Mal seine Angst, den Hörer abzunehmen. Keinen Moment zweifelte er, dass er gleich eine schlechte Nachricht hören würde; er sah Erwin oder auch Fritz verhaftet und ins Gefängnis abtransportiert, und in Sekundenschnelle stellte er sich vor, sie wären zusammengeschlagen worden und würden um ihr Leben kämpfen. Mit pochendem Herzen überlegte Johann Isidor, der in seinem ersten, dem freien Leben bei Freunden und Rivalen dafür bekannt war, dass er nie einer Schwäche nachgab, welche von beiden Möglichkeiten die schlimmere wäre. Ängstigte er sich mehr um seinen Sohn oder um den Mann seiner Tochter? Panik und Scham nahmen ihm den Atem. Er fragte sich, ob der Gott, der nicht mit sich handeln ließ, die Ichbezogenheit der Kleingläubigen und Egoisten ahndete. Oder hatte der Gerechte Nachsicht mit den Entmutigten, den Schwachen und Gejagten? Anna fiel ihm ein. Um ihretwillen durfte er nicht aufgeben. Nie. Für Anna war die Welt jenseits von Deutschland verschlossen. Schon hörte der Vater ihre Stimme. Er hörte die Tochter klagen, man hätte ihren Hans, den mutigen Drucker, der sein Leben für die Freiheit des Wortes riskierte, abermals in ein Konzentrationslager gebracht.
»Nein«, flüsterte Johann Isidor. Er wiederholte das Wort, konnte kaum noch den Hörer in seiner Hand halten, konnte nicht mehr stehen, fühlte schon den Sturz. Sein geschwächtes Knie gab nach, der rechte Fuß war geschwollen. Er nannte seinen Namen, sagte auch noch »Posamentier und Handelsmann«, was er noch nie getan hatte, hörte das Rauschen in der Leitung, duckte sich, um der Bedrohung zu entgehen, doch sie wurde lauter, bedrängender, unausweichlicher. Die Kiefer schmerzten, er kaute Luft und konnte doch nicht sprechen, wollte die kleine Schreibtischlampe neben dem Telefon anknipsen, fand aber den Schalter nicht. Mit Augen, die in ihren Höhlen austrockneten, starrte er in die Dunkelheit und wartete auf den Moment, da ihn seine Angst erwürgen würde.
Da geschah das Unfassliche. Ein Felsbrocken, so gewaltig wie der, aus dem Moses Wasser geschlagen hatte, sprengte sich von seiner Brust. Die Stimme, die sein Ohr peitschte, hatte er als die von Frau Meyerbeer erkannt. Es brauchte Zeit, ehe er sich fasste. Die alte Frau atmete so mühsam, als hätte sie einen Herzanfall, aber jedes Wort brüllte sie donnerlaut ins Telefon. Um sie überhaupt zu verstehen, musste Johann Isidor den Hörer von seinem Ohr weghalten.
»Beruhigen Sie sich«, sagte er. Er wiederholte die drei Worte zweimal hintereinander, doch bei Frau Meyerbeer kam keines an. »Ich bin so schnell bei Ihnen, wie es nur geht. Wie ich nur kann. Heutzutage kann ein Mann in meinem Alter aber nicht einfach in stockdunkler Nacht losrennen. Das erregt Argwohn. Und wenn ich unterwegs aufgehalten werde, ist alle Mühe vergebens gewesen.« Er merkte, wie vorsichtig er seine Worte wählte, dass er Angst zu fragen hatte, nichts hören und nichts wissen wollte. Es hieß schon lange, sie würden die Telefone von Juden abhören, die Juden von Hausgenossen und ehemaligen Angestellten bespitzeln lassen. Wer waren die Lauscher, was wollten sie erfahren?
»Mein Mann ist immer sofort losgerannt, wenn Sie Ihr Zipperlein hatten«, erwiderte Frau Meyerbeer in einem unerwartet ruhigen Ton – dem gewohnt sarkastischen, immer ein wenig ablehnenden und hochfahrenden. »Vielleicht erinnern Sie sich noch, Herr Sternberg, wie prompt Ihr unermüdlicher Hausarzt Doktor Meyerbeer immer zu Ihnen gekommen ist. Zur ganzen Familie, um genau zu sein, egal ob Ihre Köchin Bauchschmerzen hatte oder ein Kind geboren wurde. Mein Mann hat nie überlegt, ob er gut in der Rothschildallee ankommen würde. Er hat nicht auf die Uhr geguckt und nicht nach dem Wetter. Ich hätte Sie bestimmt nicht angerufen, wenn ich jemand anderen gewusst hätte, der mir hilft. Das können Sie mir glauben.«
»Sie haben genau das Richtige getan, Frau Meyerbeer.« »Es ging alles so schnell. So schrecklich schnell.
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