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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Einen alten Mann, der nicht mehr sicher auf den Beinen ist, aus seiner Wohnung zu zerren, dauert ja nicht lange. Das ist ein Kinderspiel für vier stramme Burschen in Uniform. Noch nicht einmal seine Straßenschuhe hat er sich anziehen dürfen und auch nicht sein Jackett. Nur die Pantoffeln und den Bademantel. Ausgerechnet einen gestreiften. Der sieht ja ohnehin wie Häftlingskleidung aus.«
    »Nicht am Telefon«, raunte Johann Isidor. »Ich komme ja zu Ihnen. Sobald es hell wird.«
    Er legte den Hörer zurück auf die Gabel. Seine Hand brannte, als hätte er ins Feuer gegriffen. Er torkelte auf die Toilette, klappte den Deckel herunter, ließ sich davor auf die Knie fallen und stützte seinen Kopf mit Händen ab, die weiterloderten. Zunächst merkte er nicht, dass der Schmerz in seine Schläfe kroch und dass er zu würgen begann, doch ausgerechnet in dem Moment, da allein sein Körper das Geschehen bestimmte, vermochte er wieder klar zu sehen, sich zu konzentrieren, sein Leben wie ein Mann zu analysieren, der ein Mensch wie jeder andere ist.
    Johann Isidor Sternberg, der einst ein freier Frankfurter Bürger gewesen war, begriff ein für alle Mal, dass er den Kampf um seine Ehre, um sein Gewissen und seinen Stolz endgültig verloren hatte. In der Stunde, da ihm die Not der Juden in Deutschland so bewusst geworden war wie nie zuvor, hatte er versagt. Nur um sich und die Seinen war er besorgt gewesen, nicht um den lebenslangen Freund, dem er wie einem Bruder vertraute und der nun in Not war. Johann Isidor stand auf. Es gelang ihm gerade noch, rechtzeitig den Toilettendeckel hochzuheben. Dann würgte er den Ekel und die Scham, die betäubende Hilflosigkeit und die Panik, die er bei jedem Wort von Frau Meyerbeer empfunden hatte, aus sich heraus.
    Er wankte ins Schlafzimmer zurück. Betsy war nicht wach geworden. Ein dünner Lichtstrahl erhellte ihr Gesicht, machte es weiß und jung und erzählte Geschichten, die nicht mehr stimmten. Johann Isidor hatte das Bedürfnis, sich über seine Frau zu beugen, ihre Atemzüge zu hören und ihre Haut zu riechen, doch er versagte es sich. Später beschäftigte ihn der Gedanke, dass der Mond und selbst die städtischen Laternen immer noch für Juden schienen; er versuchte zu lächeln, als ihm aufging, dass Zynismus der Balsam derer ohne Hoffnung war, aber seine Lippen klebten aufeinander. Eine Stunde saß er steif auf der Bettkante und wartete geduldig auf das erste Grau eines grausamen Morgens. Erst als er ein Auto hupen hörte, rührte er sich. Das Nachthemd war nass geschwitzt wie das eines Fieberkranken, die Haut verlangte nach Wasser. Er fand den Weg ins Badezimmer und stierte eine Weile, die ihm Ewigkeit war, in den Rasierspiegel am weiß lackierten Schrank. Er sah, dass er weinte.
    Zurück im Schlafzimmer zog er sein geripptes Unterhemd an, dann die weiße Unterhose, die er vor dem Schlafengehen zu einem Quadrat gefaltet hatte. Die Socken rochen nach dem billigen Waschpulver, auf das Betsy seit Neuestem bestand, um die Haushaltskasse zu schonen. Im Dunkeln band er seine Schuhbändel zu. Die Hände zitterten. Mit tief gesenktem Kopf und Schläfen, in denen immer noch die Angst hämmerte, betete er, Gott möge ihm noch einmal Stärke und Mut geben, damit er seinen Kindern helfen könnte, den Weg aus der Hölle zu finden.
    »Was in aller Welt machst du«, fragte Betsy, »und mit wem hast du geredet? Mitten in der Nacht. Und in diesem albernen Flüsterton.« Ihre Stimme war zu hoch, war unsicher.
    »Mit dir, mit wem sonst? Ich habe dir nur gesagt, dass ich zu Frau Meyerbeer muss. In der Nacht haben sie Adolf abgeholt.«
    »Doch nicht den alten Mann. An einem Greis in seinem Alter, der ohne Brille blind wie ein Maulwurf ist und der nach fünfzig Metern wie ein dreibeiniger Hund lahmt, kann man sich doch nicht vergreifen. Das muss eine von diesen absurden Verwechslungen sein, von denen man immerzu hört und die ich nie geglaubt habe.«
    Doktor Meyerbeer kehrte um zwölf Uhr zehn nach zwei Wochen und drei Tagen in seine Wohnung zurück. Seine Frau bekam einen gewaltigen Schreck. Sie war gerade dabei, ihr Mittagessen zu kochen – Linsensuppe, die er nicht ausstehen konnte. Deswegen sagte sie zur Begrüßung: »Mein Gott, auch das noch!«, und ließ den Kochlöffel fallen.
    »Ich hab gelernt, dass Linsensuppe eine Delikatesse ist und Jakob recht hatte«, sagte er freundlich. »Auch ich hätte mein Erstgeburtsrecht verkauft, wenn sich jemand für die Familienverhältnisse eines alten

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