02 Die Kinder der Rothschildallee
hatte, stellte seit der Rückkehr beim Schlafengehen immer seine Straßenschuhe vor das Ehebett. Obwohl es Ende Juni und das Wetter entsprechend warm war, bestand er darauf, seinen Wintermantel über den Stuhl im Schlafzimmer zu hängen. Er zählte bei Tisch die Kartoffeln auf seinem Teller, versteckte Brotrinden im Bücherschrank und benutzte nur noch sonntags Zahnpasta.
Trotz seiner Begegnung mit deutscher Polizeigewalt und deutscher Justiz wurde Doktor Meyerbeer allerdings nicht so vorsichtig in seiner Wortwahl und Denkweise, wie es im Jahr 1936 für einen Juden und erst recht für einen soeben aus der Haft Entlassenen geboten war. »Ein alter Mann«, diagnostizierte er, »hat eben nicht nur Probleme beim Pinkeln. Manchmal hat er auch Durchfall im Gehirn. Da gehen ihm die Gäule durch.«
Weil ihm das Stehen schwerfiel und seine Hüften dabei schmerzten, hatte Meyerbeer ausgerechnet auf dem Postamt – das Hitlerbild an der Wand und die meisten Schalterbeamten mit dem Parteiabzeichen am Revers – gefährlich überdeutlich genörgelt: »Das war das Gute an der Hammelsgasse, man brauchte nie um Briefmarken anzustehen. So ein Schreibverbot ist vom medizinischen Standpunkt durchaus empfehlenswert.«
Das 1905 eröffnete Frankfurter Untersuchungsgefängnis in der Hammelsgasse 6–10 hatte Monarchie, Novemberrevolution und die Weimarer Republik erlebt. Nun stand das Haus im Dienste von Naziterror und Willkür. Der zweiundachtzigjährige Doktor Adolf Meyerbeer, praktischer Arzt und bei seinen nichtjüdischen Patienten so beliebt, dass etliche von ihnen ungefragt beteuerten, »auf unseren Doktor lass ich nichts kommen«, wusste von der Hammelsgasse lediglich, dass sich dort ein Gefängnis befand. Den Begriff »Untersuchen« hatte er bis dahin auf den Beruf des Mediziners bezogen. Das Wort Untersuchungshaft war ihm wissentlich noch nie begegnet. Bis zu seiner Entlassung aus dem Haus mit den vergitterten Fenstern und den schweren Gittertüren begriff er nicht, dass er ein Untersuchungshäftling war und dass sein Wohlergehen und seine Zukunft allein vom Untersuchungsrichter abhingen. Weil ihm bei seiner Einlieferung die Brille abgenommen worden war und er nicht lesen konnte, was ihm zu lesen befohlen wurde, wusste er nicht, was man ihm zur Last legte.
Vorgeworfen wurde dem Untersuchungshäftling Meyerbeer, er hätte Rassenschande mit seiner jungen Sprechstundenassistentin betrieben. Die Unterstellung war eine für die Zeit typische Verwechslung. Doktor Meyerbeers ehemalige Sprechstundenhilfe Dora Dingeldein war bei ihrer Einstellung ein altjüngferliches Fräulein mit Haarknoten und unreinem Teint gewesen. Das mangelnde Interesse ihres Chefs an ihrer Person hatte sie nie verwinden können. Ihre Anzeige vom Mai 1936 lautete allerdings nicht auf Rassenschande. Dora Dingeldein beschuldigte den Mediziner, er hätte trotz Ruhestands und des gegen jüdische Ärzte erlassenen Berufsverbots, »das sie im Übrigen sehr begrüße«, einen ehemaligen Patienten empfangen. Das entsprach sogar annähernd der Wahrheit. Der ehemalige Patient, ein Klempner mit vier Kindern, wohnte einen Stock unter Fräulein Dingeldein und hatte nachts Sturm bei Meyerbeers geschellt. Er erinnerte sich so gut an den Arzt, weil er ihn einmal um vier Uhr morgens zu seinem einjährigen Sohn geholt hatte, der sich in Fieberkrämpfen wand, und seine Frau damals den Arzt als »einen ganz feinen Mann« bezeichnet hatte. Meyerbeer hatte den linken Arm des Mannes kurz beim Schein der Straßenlaterne betrachtet und ihm geraten, sich wegen einer drohenden Blutvergiftung umgehend im Krankenhaus behandeln zu lassen. Nach seiner Rückkehr vom Bürgerhospital hatte der Klempner im Hausflur Fräulein Dingeldein die Geschichte seiner glücklichen Rettung erzählt.
Die Anklage wegen fortgesetzter Rassenschande, so stellte der Untersuchungsrichter binnen vierzehn Tagen fest, bezog sich auf einen ehemaligen Rechtsanwalt von hohem Ansehen und – bis zu Hitlers Machtergreifung – von untadeligem Ruf. Der Richter hatte den Mann immer um seinen Erfolg und noch mehr um dessen reiche Frau und die Maßanzüge aus englischem Tuch beneidet. Er überwies ihn ins Konzentrationslager Dachau. Der Untersuchungshäftling Meyerbeer wurde zwei Tage später entlassen, ohne dass die Anschuldigungen von Dora Dingeldein überhaupt untersucht wurden.
Er war nicht schlecht behandelt worden; das hob Meyerbeer in jedem Gespräch mit Johann Isidor hervor. Gleich zwei der Gefängniswärter waren
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