02 Die Kinder der Rothschildallee
hatte. Lange grübelte der Vater über das Paradoxon, dass ein früher Tod dem Menschen die Leiden des Lebens erspart. Ein paarmal steckte er seine rechte Hand in die Tasche. Wann immer er auf das Kuvert stieß, dankte er dem Himmel, dass er einen Freund wie Adolf Meyerbeer hatte.
Zu Hause fragte ihn Betsy mit dem weiblichen Instinkt, der ihn nach vierzig Jahren Ehe immer noch erschreckte, wie sein Spaziergang gewesen wäre.
»Wie immer«, erwiderte er. »Zwei alte Herren haben auf einer Bank am Main gesessen, einer jungen Frau nachgeschaut und festgestellt, dass sie nicht mehr die Jüngsten sind.«
»Aber Schmerzen an der Blase hattest du nicht?«, forschte Betsy.
»Schmerzen im Gemüt«, erwiderte Johann Isidor, »da helfen keine Kürbiskerne. Ich glaub, da ist Opium angesagt.«
Am nächsten Tag sagte er sowohl einen Zahnarzttermin ab als auch den Nachmittagsspaziergang mit Doktor Meyerbeer. In unruhiger Nacht hatte Johann Isidor, der verantwortungsvolle, immer noch resolute Patriarch, seine Entscheidung getroffen. Es ging nicht länger an, dass er auf die Habe, die ihm geblieben war, nicht jederzeit zurückgreifen konnte. Seine Kinder wollten – und mussten! – auswandern. Dafür brauchte der Vater Bargeld. Grundbesitz war eine Fessel geworden.
Erwin vertraute der Vater als Einzigem an, dass er bereits seit Längerem wegen seines Hauses in der Glauburgstraße verhandelte. »Und wenn ein gewisser Herr Schwabe nur halb so anständig ist, wie er tut, dann betrügt er mich nicht mehr, als sein Gott ihm gestattet. Und für den armen Jud bleibt auch noch was. Mir ist es nicht genug, wenn ich gerade noch die Reichsfluchtsteuer für meine Kinder aufbringen kann. Ich will sie nicht nackt in die Welt schicken. Bei Alice wird es bald so weit sein. Deine Mutter hat’s im Gefühl. Sie sucht schon die Koffer zusammen.«
»Ich wollt, ich könnt dir widersprechen«, sagte Erwin.
»Deine Ration an Widerspruch hast du als Zwölfjähriger fürs ganze Leben aufgebraucht, mein Sohn«, antwortete Johann Isidor. »Und ich wollt’, ich könnt jetzt lächeln.«
Am 20. Juli trennte sich Johann Isidor Sternberg von seinem Haus in der Glauburgstraße. Sein Favorit war das triste graue Gebäude mit den wuchtigen Balkons nie gewesen. Im geschäftigen Nordend jedoch war das kompakt gebaute Wohnhaus mit den geräumigen Wohnungen, dem hohen Mietaufkommen und einem immer wieder modernisierten Metzgerladen eine besonders gute Geldanlage gewesen. Der Eigentümerwechsel interessierte nur die unmittelbar Beteiligten. Käufer war der Metzger Karl Schwabe aus dem Parterre. Der hatte schon lange davon geträumt, das Haus zu besitzen, in dem seine Würste und Schnitzel so appetitlich im Schaufenster auslagen – der Olympiade wegen seit dem Frühjahr mit einem großen Führerbild an der Wand und fünf olympischen Ringen aus buntem Stickgarn darunter. Die dreizehnjährige Magda Schwabe hatte sie im Handarbeitsunterricht mit einer ganz feinen Nadel gehäkelt und war dafür lobend in der Zeitschrift »Wir Jungmädel« erwähnt worden. Metzger Schwabe hatte in den letzten Jahren gut verdient, er war sicher, es würde weiter aufwärtsgehen. Seit dem Einmarsch der Deutschen im Rheinland, dem Bruch mit dem Völkerbund und der Goebbels-Forderung »Waffen statt Butter« hielt er einen Krieg für durchaus möglich, und aus Erfahrung wusste er, dass Metzger in jedem Krieg zu den Siegern gehörten.
Zum Abschluss der Verhandlungen mit seinem ehemaligen Hauswirt und nachdem er den Kaufpreis längst nicht so rigoros heruntergehandelt hatte, wie es die herrschende Moral empfahl, sagte Schwabe etwas für die Zeit sehr Ungewöhnliches. »Wenn ich das Haus nicht gekauft hätte«, erklärte er, »hätte es doch ein anderer getan, und der hätte Ihre Lage noch mehr ausgenutzt als ich, Herr Sternberg. Das können Sie mir glauben. Sie haben wirklich Glück gehabt. Ich hab mich nämlich mit unserem Pfarrer beraten. Meine Frau wollte das so. Sie war früher bei Juden in Stellung, und sie hat immer gesagt, so gut wie bei denen hat sie es nirgends mehr gehabt.«
»Grüßen Sie Ihren Pfarrer«, sagte Johann Isidor beim Abschied. Er hatte Magenschmerzen und einen Kopf, der rebellierte, aber auch ein Paket mit Fleisch-, Blut- und Leberwurst, mit Presskopf und ganz frischer Kalbsleber. Die Leber hatte Frau Schwabe in letzter Minute dazugepackt und eigens darauf hingewiesen, dass sie sich mit den »Essgewohnheiten Ihrer Leut« auskenne.
Auf dem kurzen Nachhauseweg fiel
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