02 - komplett
schon sagten, der Abschied gestern war freundschaftlich“, sagte er und überging damit elegant ihre Frage. „Trotzdem frage ich mich, ob Sie mir mein unverzeihliches Verhalten schon verziehen haben.“
„Sind Sie denn gekommen, um Ihr unverzeihliches Verhalten zu wiederholen?“ Ruth war entschlossen, sich nicht von ihm abspeisen zu lassen. Doch sie musste lange auf eine Antwort warten.
In der Stille, die den Raum füllte, schien pure Sinnlichkeit zu schwingen. Clayton war nicht näher gekommen, und er berührte sie nicht. Nur ein Hauch kalter Luft und eine Spur des Duftes, der in seiner Kleidung hing, stieg ihr in die Nase. Und dennoch spürte Ruth seine Gegenwart auf so überwältigende Weise, dass ihr die Knie weich zu werden drohten. Als erwarte sie seinen Kuss, öffnete sie leicht die Lippen.
Sekunden vergingen, bis sie ihren Blick von Clayton losriss. Das Blut war ihr aus den Wangen gewichen.
„Ich glaube, ich sagte es bereits: Mir liegt viel an Ihrer guten Meinung. Warum also sollte ich etwas sagen, was Sie verletzt?“ Noch während Clayton die Worte äußerte, kam er sich genauso kaltschnäuzig vor, wie Gavin es ihm vorgeworfen hatte.
Ruth Hayden wusste sicher, was er von ihr wollte, schließlich stand ihre Klugheit ihrer Schönheit in nichts nach. In ihrer Miene war klar und deutlich zu lesen, dass sie seine Absicht ahnte, ihr ein unmoralisches Angebot zu machen. Und trotzdem schickte sie ihn nicht fort.
Nicht, dass er damit rechnete, endgültig abgewiesen zu werden. Vielleicht würde sie sich beim ersten Mal weigern, seine Mätresse zu werden. Vielleicht auch beim zweiten Mal. Aber am Ende würde sie seinen Wünschen nachgeben.
Statt der silbergrauen Abendrobe, in der er sie in den letzten Tagen gesehen hatte, trug sie nun ein schlichtes dunkles Tageskleid. Das kleine Zimmer war kalt, und ihre einzige Bedienstete war nach Hause gegangen und hatte sie allein zurückgelassen.
Vermutlich lebte Ruth Hayden mehr schlecht als recht von einem winzigen Einkommen und weigerte sich stolz, ihre Freunde um Hilfe zu bitten. Dabei hatten Gavin oder Sarah ihr bestimmt Unterstützung angeboten.
Dies war nicht die erste Witwe in beengten Verhältnissen, vor der Clayton stand ...
und keine von ihnen war blass geworden und seinem Blick ausgewichen, wie es Ruth Hayden nun tat. Einige hatten ihm einen Korb gegeben, um auszuprobieren, ob er sein Angebot daraufhin noch verbessern würde. Ruth Hayden würde ihm einen geben, um seine Geduld auf die Probe zu stellen. Aber früher oder später würde auch sie feststellen, dass das, was er ihr zu bieten hatte, eine zu große Versuchung darstellte. Es sei denn ... sie entschied sich doch für Dr. Bryant. Allerdings empfand er den Dorfarzt nicht mehr als ernst zu nehmenden Rivalen, seit er erfahren hatte, dass Ruth dessen Antrag abgelehnt hatte.
Clayton frohlockte innerlich. Mochte Ruth Hayden sich ihm gegenüber auch misstrauisch geben – die gegenseitige Anziehungskraft war nicht zu leugnen. Und es bedurfte lediglich eines Kusses, um ganz sicherzugehen ...
10. KAPITEL
„Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Sir?“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang diese höfliche Frage gestelzt. Etwas freundlicher fuhr Ruth fort: „Im vorderen Salon steht eine Flasche Portwein.“
„Ziehen Sie denn Portwein einem guten Sherry vor?“
„Ich habe ihn gekauft, um ihn Besuchern anbieten zu können.“
„Zum Beispiel Dr. Bryant?“
„Möchten Sie mich in Bezug auf Dr. Bryant irgendetwas fragen?“, erkundigte sie sich, etwas ungehalten über seine Anspielungen.
„Das brauche ich nicht. Ich glaube, dass er Ihnen einen Antrag gemacht hat, den Sie abgelehnt haben. Liege ich richtig?“
Nun gut – wenn er das wusste, dann brauchte er sie tatsächlich nichts mehr zu fragen. Ruth spürte, wie Ärger in ihr aufstieg. „Hat er Ihnen das erzählt, als Sie ihn gestern nach Hause gebracht haben?“ Der Gedanke, die beiden könnten sich hinter ihrem Rücken über sie unterhalten haben, verschlug ihr beinahe die Sprache.
„Wir haben auf der Fahrt kaum miteinander gesprochen. Weder Dr. Bryant noch ich haben auch nur ein Wort über Sie verloren.“
„Wer dann? Sarah traue ich es nicht zu, den Heiratsantrag erwähnt zu haben.“
Trotz der Auseinandersetzung im Red Lion hatte Clayton nicht die Absicht, Gavin zu verraten. Außerdem hatte dieser ja keineswegs verlautbaren lassen, um wen es sich bei Mrs. Haydens erfolglosem Bewerber handelte.
„Es war keineswegs schwierig zu
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