043 - Der Mann von Marokko
mochte dieser Mann wissen? Hatte Morlake ihm etwas erzählt?
Hamon erinnerte sich an einen sonnigen Tag in Marokko, an dem zwei Männer auf Mauleseln durch die Wüste auf die Rifhügel zuritten. Er selbst war einer der beiden, der andere war ohne Namen. Als sie den sandigen Abhang emporklommen, kam plötzlich ein junger Mann im schärfsten Galopp auf sie zu, hielt an und beobachtete sie, nachdem sie vorüber waren. Das war Hamons erste Begegnung mit James Lexington Morlake gewesen.
Jetzt erinnerte er sich auch, daß er damals plötzlich den unbändigen Wunsch hatte, sich auf den Mann zu stürzen und ihn niederzuschießen. Der Beobachter bedeutete für ihn die größte Gefahr. Ralph Hamon faßte mit der Hand mechanisch zur Hüfttasche, wo seine Pistole steckte. Aber dann schüttelte er die Träume von sich ab und verließ das Büro.
Lydia wartete schon ungeduldig auf ihn.
»Ich habe eine Verabredung zum Abendessen mit Lady Clareborough. Ich habe nur noch fünf Minuten Zeit!« erklärte sie ärgerlich.
»So, fünf Minuten hast du nur für mich übrig? - Na, ich glaube, das genügt auch. Es handelt sich um Morlake.«
»Morlake?« fragte sie, unangenehm berührt. »Haben wir mit ihm nicht Schluß gemacht?«
»Die Frage ist jetzt nur, ob er mit mir Schluß gemacht hat. Du mußt mit ihm bekannt werden, ganz gleich, wieviel Geld das kostet. Ich möchte zu irgendeiner Verständigung mit ihm kommen, Frieden mit ihm machen. Und ich glaube, daß du die Sache besser vermitteln kannst als ich. Du bist klug und hast Erfindungsgabe. Vielleicht ist er auch der Mann, der einer Frau gegenüber zugänglich ist - es gibt wohl nur wenige, auf die du keinen Eindruck machst.«
»Was meinst du mit - zugänglich? Soll er mich etwa heiraten oder sich in mich verlieben? Oder was soll es sonst heißen?«
»Es ist mir ganz egal, was er tut, wenn du ihn nur überreden kannst, seine Rachepläne gegen mich aufzugeben.«
»Sorgt denn nicht das Gesetz bereits dafür, daß du nichts mehr von ihm zu befürchten hast? Ich habe den Bericht über die Gerichtssitzung gelesen, und nach dem, was der Richter sagte, machst du dir doch wahrscheinlich unnötige Sorgen. Außerdem möchte ich die gesellschaftliche Stellung, die ich mir erobert habe, nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen, indem ich mit einem verurteilten Verbrecher verkehre - nach dem Prozeß ist er so gut wie verurteilt. Ich muß vor allen Dingen an meine Bekannten denken.«
»Na, dann geh zu deinem Dinner!« entgegnete er barsch. »Ich dachte, du hättest dir diese Dummheiten aus dem Kopf geschlagen.«
Sie wollte ihm leidenschaftlich widersprechen, aber als sie seinen Blick sah, schwieg sie.
Ralph Hamon war ein reicher, aber ein geiziger Mann. Er verwahrte nutzlose Dinge in der Hoffnung, sie eines Tages doch noch verwenden zu können. Nie verschwendete er ein Blatt Papier, auf das man noch eine Zeile schreiben konnte.
Jim Morlake hatte diese Schwäche sehr gut charakterisiert, als er Hamon die Parabel von dem Affen und der Kürbisflasche erzählte. Aber diese Eigenschaft war nicht nur eine Schwäche, sie konnte ihm sogar zum Verhängnis werden. Seine Vernunft sagte ihm, daß er ein gewisses Schriftstück, das er besaß, verbrennen sollte. Aber obwohl er schon ein dutzendmal fest dazu entschlossen war, brachte er es doch nicht fertig.
Die Bibliothek, in der er sich gewöhnlich aufhielt, wenn er arbeitete, lag im Obergeschoß seines Hauses am Grosvenor Place. Er las wenig, trotzdem waren drei Wände des Raumes mit Bücherschränken und Regalen, die die üblichen Werke enthielten, bedeckt.
Einen Band nahm er allerdings öfter zur Hand. In einem kleinen, besonderen Schrank mit Glastüren standen neben anderen Büchern Emersons Essays.
Hamon verriegelte die Tür, zog die Vorhänge dicht zu, öffnete den Schrank und holte das prachtvoll gebundene Exemplar heraus. Er brauchte beide Hände, um es herunterzuheben und zum Tisch zu tragen.
Der Einband war äußerst geschickt nachgemacht, und der Buchschnitt täuschend ähnlich.
Hamon wählte einen Schlüssel aus dem Bund, den er an einer langen Kette in der Tasche trug, steckte ihn in ein Loch zwischen Deckel und Seiten und schloß auf. Als er den Deckel hochhob, enthüllte sich das Buch als ein flacher, halb mit Dokumenten gefüllter Kasten, der aus solidem Stahl gefertigt war. Hier verwahrte Hamon seine wichtigsten Akten.
Er nahm ein Schriftstück heraus, legte es auf den Schreibtisch und schaute auf das engbeschriebene Blatt. Es war
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