0488 - Blutregen
Möglichkeit, andere in ihren Irrtümern zu bestätigen. Don Cristofero, wollen wir hier und jetzt weiterstreiten, oder wollen wir Professor Zamorra retten?«
»Fürwahr, auch eine Frau kann zuweilen einen klugen Gedanken wie diesen haben«, brummte Cristofero. »Gehen wir weiter!«
Es war immer noch kein Wächter aufgetaucht. Immer stärker wurde in Nicole der Verdacht, daß der Schutzwall sich gegen die bissigen und gefräßigen Kleintiere richtete, die sie draußen kennengelernt hatte. Vielleicht wollte man sie nur aus dem Ort fernhalten. Sicher ein probates Mittel, wenn sie nicht klettern oder schwimmen konnten.
Wie hundertprozentig richtig sie mit dieser Vermutung lag, ahnte sie nicht einmal.
Die breite Straße führte mitten durch die Ortschaft hindurch. In regelmäßigen Abständen gab es Öllampen an großen Masten. An einem davon war gerade jemand damit beschäftigt, neues Öl einzufüllen. Vor einer Haustür ergingen sich zwei Damen mittleren Alters in einer schier endlosen Abschiedszeremonie; ein paar Häuser weiter versuchte ein alter Mann im Schein einer vor seinem Haus stehenden Straßenlampe eine Schönheitsreparatur an seinem Zaun vorzunehmen. Aus einer Schänke erklang recht laute, melodische Musik, Stimmengewirr und das Klirren von Gläsern. Aus einer Seitenstraße schlenderte ein Mann, der einen Degen am Gürtel trug und nach Polizist oder Nachtwächter aussah; so, wie er sich bewegte, war er froh, die Gasse verlassen zu haben. Er blieb stehen, betrachtete Nicole und Cristofero eingehend und setzte dann seinen Weg fort.
»Nicht stehenbleiben!« hatte Nicole den Grande im Flüsterton gewarnt, »Dann wird er erst recht mißtrauisch!«
Also blieben sie nicht stehen. Auch nicht, als eine dreiköpfige Gruppe unmittelbar vor ihnen ein Haus verließ; zwei leidlich hübsche Mädchen und ein attraktiver junger Mann. Sie bewegten sich ebenso unbefangen wie unbekleidet; das einzige, was sie trugen, waren wadenhohe Stiefel, die ihre Nacktheit noch zusätzlich unterstrichen. Der Nachtwächter nahm von ihnen keine Notiz, bei dem alten Mann am Zaun blieben sie kurz stehen und plauderten ebenso mit ihm wie mit der Dame, die das anhaltende Abschiedsgespräch mit ihrer Gastgeberin endlich zu Ende gebracht hatte und jetzt in großer Hast die Straße entlangstöckelte, nur um bei den anderen wiederum stehenzubleiben und weiterzuplaudern.
Don Cristofero war puterrot geworden. »Schamloses Volk«, raunte er. »In aller Öffentlichkeit! Muß das denn sein?« Er wandte sich demonstrativ ab, versuchte aber immer wieder einen Blick auf die beiden Mädchen zu werfen. Indessen fand Nicole den Jüngling wesentlich interessanter. »Zumindest scheint es hier keine Nacktheitstabus zu geben«, flüsterte Nicole. »Ich schätze, hier würden die Zwillinge sich wohl fühlen.« Sie dachte an Monica und Uschi Peters, die eineiigen Zwillinge. Die blonden Telepathinnen waren vermutlich zeitlebens öfter nackt als angezogen gewesen und pflegten Freikörperkultur, wo es nur eben ging. Die Zamorra-Crew hatte sich längst daran gewöhnt, zumal die Mädchen es sich auch durchaus leisten konnten, ihre gutgebauten Körper zu zeigen. Aber Don Cristofero war bei seinem ersten Auftauchen im Château Montagne regelrecht schockiert gewesen, als ihm als erstes die beiden gerade zu Besuch weilenden Mädchen splitterfasernackt über den Weg liefen - und Augenblicke später auch noch eine ebenso hüllenlose Nicole Duval. Weiblicher Schönheit war der Don durchaus nicht abhold, doch mit derlei freien Sitten und Gebräuchen mochte er sich nicht so ganz abfinden. In seiner Zeit war das einfach unmoralisch; selbst die Damen des horizontalen Gewerbes ließen höchstens mal das Dekolleté eine Handbreit zu tief abrutschen, wagten es aber nicht, sich einfach so in der Öffentlichkeit völlig zu entblößen. Derlei gehörte nach Cristoferos Ansicht in die Abgeschiedenheit einer nur noch von Kerzen erleuchteten Kemenate.
Das hinderte ihn andererseits nicht daran, möglichst unauffällig nach schlanken Schenkeln zu schielen, und danach, was oberhalb derselben zu begutachten war. Aber dabei pflegte er stets sein schlechtes Gewissen.
Die drei Nackten setzten ihren Weg jetzt fort, bewegten sich dabei manchmal so provozierend, daß es selbst Nicole warm in ihrem Lederoverall wurde. Vorsichtiges Streicheln, ein paar Küsse hier und da - das Spiel mit dem Körper schien zur Kunst erhoben zu sein, und niemand störte sich daran. Nicht einmal der Nachtwächter.
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