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054 - Gabe und Fluch

054 - Gabe und Fluch

Titel: 054 - Gabe und Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Frenz
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allen Seiten war einfach unerträglich. »Sein Gesicht kriegen die nie wieder hin!«
    Seine Mutter brach in Tränen aus, als sie ihn zum ersten Mal sah. Sein Vater, unfähig, ihn in die Arme zu schließen, brachte kein Wort hervor. Am schlimmsten jedoch war die Begegnung mit Keiko. Noch zu jung, um ihre wahren Gefühle zu unterdrücken, verzog sie angeekelt das Gesicht.
    Dieser Moment brannte sich unauslöschlich in Fudohs Gedächtnis ein. Es war der Augenblick, in dem ihm endgültig klar wurde, dass er nie wieder ein normales Leben führen konnte.
    Nur dem Schock, unter dem er stand, war es zu verdanken, dass er nicht auf der Stelle zusammenbrach. In dieser schweren Stunde stand ihm Meister Takashi zur Seite, den er früher oft verlacht hatte. Nachdem die Verletzungen des Jungen so gut wie möglich versorgt waren, spritzte man ihm ein starkes Beruhigungsmittel und verlegte ihn auf ein Einzelzimmer.
    Trotz der Medikamente versuchte sich Fudoh in den folgenden Tagen zwei Mal das Leben zu nehmen. Erst als man ihn mit Lederriemen ans Bett fesselte, ergab er sich in sein Schicksal. Von schweren Depressionen geplagt, dämmerte er im Halbschlaf vor sich hin, überzeugt, von nun an ein Leben als Ausgestoßener führen zu müssen. Ein Besuch der völlig verstörten Keiko stürzte ihn nur in noch größere Depressionen, so dass er sich fortan weigerte, sie zu empfangen. Seine Eltern drangen auch immer weniger zu ihm durch.
    Es war Meister Takashi vorbehalten, ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Die alten Rituale von Ehre und Pflichterfüllung, denen sich das Shögunat verschrieben hatte, erschienen Fudoh plötzlich in völlig neuem Licht.
    »Nichts in unserem Leben geschieht ohne Grund«, versicherte ihm Takashi bei seiner täglichen Visite. »Deine Wunden mögen dir jetzt noch wie ein Unglück erscheinen, doch glaube mir, in Wirklichkeit sind sie ein Zeichen, dass du zu Höherem bestimmt bist! Das Shögunat setzt große Stücke auf dich, Fudoh. Du bist ein lebendes Zeichen. Ein Symbol, auf das die Verteidiger unseres Landes lange gewartet haben. Japan hat sich zu lange einer trügerischen Sicherheit hingegeben. Unsere Zahl ist klein, selbst wenn alle SubCitys zusammen stehen. Knappe Ressourcen begrenzen unsere Möglichkeiten, doch Luxus ist unseren Bürgern wichtiger als Disziplin und Kampfeswille. Wir müssen unsere Städte zum Umdenken zwingen, und du kannst dabei helfen. Du bist abschreckendes Beispiel und leuchtendes Vorbild zugleich. Wenn du einen größeren Etat für das Shögunat forderst, wird es niemand wagen, deine Bitte abzuschlagen.«
    Fudoh fühlte ein seltsames Unbehagen in sich aufsteigen, das er nicht näher erklären konnte. »Ich will kein Vorbild sein«, entfuhr es ihm. »Ich will so leben wie alle anderen auch.«
    »Das wirst du nie wieder können«, gestand Takashi mit ehrlichem Bedauern. »Unsere besten Ärzte haben nicht die Macht, dein Gesicht wieder herzustellen. Aber vielleicht ist das auch gut so.« Seine Stimme gewann an Intensität. »Je schlimmer eine Niederlage, desto größer die Stärke, die ein Mann daraus gewinnen kann. Ob es in deinem Fall gelingt, liegt ganz alleine bei dir. Falls du in Selbstmitleid versinkst, haben deine Feinde am Ende doch über dich gesiegt. Nutzt du aber das neu gewonnene Leben richtig, hast du die Chance, der Erlöser unseres Volkes zu werden! Von allen geachtet. Und wenn vielleicht auch nicht geliebt, so doch wenigstens gefürchtet.«
    Takashis Augen funkelten bei den letzten Worten, als ob er Furcht für die Beste aller Respektsbekundungen halten würde. Fudoh wusste nicht recht, wie er zu all dem stehen sollte. Doch es tat ihm gut, dass jemand mehr in ihm sah als den entstellten Freak, der für seinen Übermut büßen musste. Zum ersten Mal zeichnete sich so etwas wie Licht am Ende des Tunnels ab.
    Der General aller Samurai nickte zufrieden, als er sah, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden fielen. »Komm mit«, sagte er und löste dabei die Ledergurte, die Fudoh fixierten.
    »Ich zeige dir deine Zukunft.«
    Erfreut setzte sich der Junge auf. Neugier pulsierte so stark durch seine Adern, dass die Verzweiflung über sein Schicksal für einen Moment in Vergessenheit geriet.
    Er schlüpfte in ein Paar Bastsandalen, um seine nackten Sohlen vor dem kalten Boden zu schützen. Seine ersten Schritte wirkten ein wenig unbeholfen, denn er hatte das Bett seit Tagen nicht verlassen. Die Kommode bot ihm Halt, während er einen hellen Fleck an der Wand musterte. Die

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