07 - Asche zu Asche
an ihn zu lehnen. Er streichelte sachte ihre Wange.
»Er hat gestanden«, sagte sie, aber ihren Worten fehlte die Kraft, mit denen sie ihre Bemerkungen über die Besserungsanstalt hervorgebracht hatte. »Chris, er hat gestanden. Er war dort. In der Zeitung steht, daß er im Haus war. Es heißt, die Polizei kann es beweisen. Und wenn er dort war und es auch gestanden hat, dann muß er es getan haben. Siehst du das denn nicht? Vielleicht habe ich alles mißverstanden.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Chris.
»Aber warum denn?« Sie umfaßte sein Bein fester. »Warum hat die Polizei ihm so zugesetzt? Warum hat er gestanden? Warum erklärt die Polizei, er habe seinen Vater getötet? Das ergibt doch keinen Sinn. Er weiß, daß er sich in irgendeiner Hinsicht schuldig gemacht hat. Genau, das ist es. So muß es sein. Er hat sich irgendwie schuldig gemacht. Er sagt nur nicht, inwiefern. Meinst du nicht auch, daß es so ist?«
»Meiner Ansicht nach ist es ganz einfach so, daß er seinen Vater verloren hat, Livie. Er hat ihn ganz plötzlich verloren, als er überhaupt nicht damit gerechnet hat. Glaubst du nicht, daß so etwas zu einer Reaktion führt? Wie ist das denn, wenn man eben noch einen lebendigen Vater hatte und am nächsten Tag erfährt, daß er tot ist? Wenn man nicht einmal die Möglichkeit hatte, sich von ihm zu verabschieden!«
Ihr Arm, der bis dahin sein Bein umklammert hatte, fiel herab. »Das ist nicht fair«, flüsterte sie.
Aber er ließ nicht locker. »Was hast du denn getan, Livie? Du hast mit irgendeinem Kerl geschlafen, den du in einem Pub aufgelesen hattest, nicht wahr? Er hat dir fünf Pfund für eine schnelle Nummer geboten, und du warst an dem Abend betrunken, nicht wahr, und so tief unten, daß dir alles egal war. Weil dein Vater plötzlich gestorben war und du nicht einmal zu seiner Beerdigung gehen durftest. War es nicht so? Hat nicht deine Karriere auf dem Strich so angefangen? Hast du dich nicht benommen wie eine Verrückte? Wegen deines Vaters? Obwohl du es nicht zugeben wolltest?«
»Das ist nicht das gleiche.«
»Der Schmerz ist der gleiche. Wie jeder einzelne mit dem Schmerz umgeht, das ist etwas anderes.«
»Er sagt das, was er sagt, nicht, um mit seinem Schmerz fertigzuwerden.«
»Das weißt du doch gar nicht. Und selbst wenn du wüßtest, was er tut und warum er es tut - das ist doch gar nicht das, worum es geht.«
Sie rückte von ihm ab, von seiner Hand, die ihr Gesicht berührt hatte. Sie glättete die Zeitung und faltete sie zusammen. Sie legte sie zu den anderen, die er ihr am Morgen gebracht hatte, dann hob sie den Kopf und richtete ihren Blick auf Browning's Island. Sie nahm wieder die Position ein, in der er sie vorgefunden hatte, als er von seinem Spaziergang mit den Hunden zurückgekehrt war.
»Livie, du mußt es ihnen sagen«, drängte er.
»Ich schulde ihnen nichts. Ich schulde keinem Menschen etwas.«
Ihr Gesicht zeigte diesen steinernen Ausdruck, den es immer annahm, wenn sie über irgend etwas nicht sprechen wollte. Jede weitere Erörterung wäre an diesem Punkt sinnlos gewesen. Er seufzte und berührte leicht ihren Scheitel, wo das kurzgeschnittene Haar wild durcheinander wuchs.
»Du schuldest es dir selbst«, sagte er.
Lynley fuhr zuerst nach Hause. Denton war gerade bei seinem Nachmittagstee. Die Tasse in der Hand, die Füße auf dem Couchtisch im Wohnzimmer, lag er mit geschlossenen Augen auf dem Sofa. Aus der Stereoanlage dröhnte Andrew Lloyd Webber, und Denton grölte im Duett mit Michael Crawford. Lynley fragte sich, wann das Phantom der Oper endlich passe sein würde.
Er ging zur Stereoanlage und drehte sie leiser, so daß Denton nun sein »... the music of the niiiiight« in ein relativ stilles Zimmer hineinheulte.
»Sie sind einen halben Ton zu tief«, sagte Lynley trocken.
Denton sprang auf. »Oh, entschuldigen Sie«, rief er. »Ich habe gerade -«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Lynley.
Denton stellte hastig seine Teetasse auf den Tisch. Er fegte nichtvorhandene Krümel von der Tischplatte in seine geöffnete Hand und ließ sie auf das Tablett fallen, auf dem er liebevoll Brötchen, Biskuits und Trauben für sich selbst angerichtet hatte.
»Tee, Milord?« fragte er mit betretener Miene.
»Ich gehe gleich wieder.«
Denton blickte von Lynley zur Tür. »Sind Sie nicht eben erst gekommen?«
»Doch. Ich habe zum Glück nur die letzten zwanzig Sekunden Ihrer musikalischen Darbietung mitbekommen.« Er wandte sich wieder zur Tür.
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