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09 - Denn sie betrügt man nicht

09 - Denn sie betrügt man nicht

Titel: 09 - Denn sie betrügt man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Emily. »Dann nehmen wir uns jetzt Muhannad vor.«

23
    »Trinken Sie jetzt erst mal eine Tasse Tee, Mr. Shaw. Ich bin gleich draußen im Stationszimmer, wie immer. Wenn was mit ihr ist, hör' ich die Maschinen piepen.«
    »Aber ich fühle mich ganz wohl, Schwester. Ich brauche wirklich nicht -«
    »Keine Widerrede, junger Mann. Sie sehen ja aus wie ein Gespenst. Sie haben die halbe Nacht hier gesessen, und wenn Sie nicht anfangen, ein bißchen besser auf sich selbst zu achten, tun Sie damit keinem was Gutes.«
    Es war die Stimme der Tagschwester. Agatha erkannte sie. Sie brauchte die Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, wer mit ihrem Enkel sprach, und das war gut so, weil es viel zuviel Anstrengung kostete, die Augen zu öffnen. Außerdem wollte sie niemand sehen. Sie wollte nicht das Mitleid in ihren Gesichtern sehen. Sie wußte nur zu gut, was dieses Mitleid bei ihnen weckte: der Anblick einer Frau, die nur noch ein Wrack war, ein lebender Kadaver praktisch, eine Körperseite völlig verkrüppelt, das linke Bein unbrauchbar, die linke Hand verkrampft wie die Klaue eines toten Vogels, der Kopf schief, linkes Auge und widerwärtig sabbernder Mund ebenso schief.
    Zu gut wußte sie, was die Tagschwester und ihr Theo sahen. Mein Gott, sie wußte es nur zu gut.
    »Na schön, Mrs. Jacobs«, sagte Theo zu der Schwester, und Agatha hörte, daß er tatsächlich müde klang. Erschöpft und unwohl. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich von einer plötzlichen Panik erfaßt, die ihr das Atmen schwermachte. Was, wenn Theo etwas zustieß? dachte sie mit fieberhaftem Schrecken. Nicht ein einziges Mal hatte sie diese Möglichkeit in Betracht gezogen, aber was, wenn er nicht richtig für sich selbst sorgte? Wenn er krank wurde? Oder einen Unfall hatte? Was würde dann aus ihr werden?
    Sie wußte, daß er ihr nahe war, weil sie seinen Duft riechen konnte: diesen sauberen Duft nach Seife und seinem Rasierwasser mit dem Hauch von Zitrone. Sie spürte, wie die Matratze des Krankenbetts sich leicht senkte, als er sich über sie beugte.
    »Großmutter?« flüsterte er. »Ich gehe jetzt mal runter in die Kantine, aber mach dir keine Sorgen, ich bleibe nicht lange.«
    »Sie werden lang genug bleiben, um ordentlich zu essen«, erklärte die Schwester im Befehlston. »Wenn Sie in weniger als einer Stunde wieder hier sind, mein Junge, schick' ich Sie postwendend zurück. Darauf können Sie sich verlassen.«
    »Ist sie nicht furchtbar streng, Großmutter?« meinte Theo mit leichter Erheiterung. Agatha spürte seine trockenen Lippen auf ihrer Stirn. »Ich bin also in einer Stunde und einer Minute wieder da. Ruh dich inzwischen schön aus.«
    Ausruhen? fragte sie ungläubig. Wie sollte sie Ruhe finden? Wenn sie die Augen schloß, sah sie nichts anderes vor sich als das grauenvolle Bild ihrer selbst: den verkrüppelten Schatten der vitalen Frau, die sie einmal gewesen war; hilflos jetzt, bewegungsunfähig, katheterisiert, völlig abhängig von anderen. Und wenn sie versuchte, dieses Bild zu vertreiben und sich statt dessen die Zukunft vorzustellen, dann sah sie nur das, was sie tausendmal voller Abscheu und Verachtung gesehen hatte, wenn sie in ihrem Auto die Esplanade unterhalb von The Avenues in Balford entlanggefahren war, wo diese Reihe von Pflegeheimen aufs Meer hinausschaute. Dort schlurften, an ihre Gehhilfen geklammert, die abgeschobenen Alten umher. Die Rücken gekrümmt wie die Zeichen hinter einer Frage, die niemand zu stellen wagte, schleppten sie sich den Bürgersteig entlang, ein Heer der Vergessenen und Gebrechlichen. Seit ihrer Jugend war sie dieser menschlichen Relikte stets gewahr gewesen. Und seit ihrer Jugend hatte sie sich geschworen, daß sie ihrem Leben mit eigener Hand ein Ende machen würde, ehe sie so werden würde wie sie.
    Aber jetzt wollte sie ihrem Leben kein Ende machen. Sie wollte ihr Leben zurückerobern, und sie wußte, daß sie Theo brauchte, wenn es ihr gelingen sollte.
    »Kommen Sie, Schätzchen, ich hab' das deutliche Gefühl, daß Sie unter Ihren geschlossenen Augenlidern hellwach sind.« Die Schwester hing über ihrem Bett. Sie benützte ein starkes Männerdeo, und wenn sie schwitzte - was sie oft und ausgiebig tat -, quoll ihr der scharfe Geruch in Schwaden aus allen Poren. Eine Hand strich Agatha das Haar aus dem Gesicht. Dann begann sie, es mit einem Kamm zu glätten, blieb in einem Knötchen hängen, zog und zupfte beharrlich, gab schließlich auf.
    »Ihr Enkel ist wirklich ein Prachtjunge, Mrs. Shaw. So

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