09 - Denn sie betrügt man nicht
wirst.«
»Klar, das wissen wir, aber dann wollen wir doch auch gleich mal klarstellen, woher wir das wissen.« Gerry wurde rot. Cliff wußte, daß er nur noch einen Schritt davon entfernt war, den Sieg in diesem Wortgefecht davonzutragen. »Erinnerst du dich an mich?« rief er höhnisch. »Ich bin der Kerl, mit dem du's in der Klappe auf dem Marktplatz getrieben hast, als ›Schutzmaßnahmen‹ nicht halb so wichtig waren, wie jeden Kerl zu vögeln, der dich haben wollte.«
»Das ist Vergangenheit«, entgegnete Gerry abwehrend.
»Richtig. Und schauen wir uns doch die Vergangenheit mal an. Du hast die Klappenzeit genauso genossen wie ich. Einen Kerl anzumachen, in die Toilette zu verschwinden, es mit ihm zu treiben, ohne je seinen Namen zu erfahren. Aber ich halt' dir diese Zeiten nicht vor, wenn du dich mal nicht so verhältst, wie ich's gern hätte. Und ich nehm' dich nicht ins Verhör, wenn du einen Abstecher zum Marktplatz machst, um dir einen Salatkopf zu holen. Wenn es denn überhaupt das ist, was du dir dort holst.«
»Warte, Cliff.«
»Nein. Du wartest. Fremdgehen kann jeder, und du bist abends viel häufiger weg als ich.«
»Aber ich arbeite doch.«
»Klar. Du arbeitest.«
»Und du weißt genau, wie wichtig mir Treue ist.«
»Ich weiß, daß du sagst, Treue sei dir wichtig. Aber zwischen dem, was einer sagt, und wie er wirklich dazu steht, ist ein Riesenunterschied. Ich dachte, das würdest du vielleicht verstehen, Ger. Aber anscheinend hab' ich mich geirrt.«
Und das war's gewesen. Völlig in die Defensive gedrängt, hatte Gerry einen Rückzieher gemacht. Er hatte eine Weile geschmollt, aber er war kein Mensch, der lange in Unfrieden leben konnte, und so hatte er sich schließlich wegen seines Mißtrauens entschuldigt.
Cliff hatte die Entschuldigung nicht gleich angenommen. Er hatte niedergeschlagen gesagt: »Ich weiß nicht, Gerry. Wie sollen wir in Frieden miteinander leben - in Harmonie, wie du es dir doch immer wünschst -, wenn wir immer wieder solche Krache haben?«
Woraufhin Gerry gesagt hatte: »Vergiß es. Es ist die Hitze. Ich glaub', die macht mich fertig. Ich kann gar nicht mehr klar denken.«
Klar zu denken, das war es, worauf es letztendlich ankam. Und Cliff tat es schließlich. Er brauste die Landstraße zwischen Great Holland und Clacton entlang -wo der Weizen unter einem Himmel schmachtete, aus dem vier Wochen lang kein Tropfen Regen gefallen war - und erkannte, daß jetzt eine Neuorientierung, weg vom eigenen Ich und hin zum anderen, angesagt war. Jeder erhielt irgendwann in seinem Leben einen Weckruf. Entscheidend war es, diesen Ruf als das zu erkennen, was er war, und zu wissen, wie man ihm zu antworten hatte.
Seine Antwort wäre unerschütterliche Treue für die Zukunft. Gerry DeVitt war schließlich ein recht anständiger Kerl. Er hatte eine gute Arbeit. Er hatte ein Haus in Jaywick, das keine fünf Schritte vom Strand entfernt war. Er hatte ein Boot und ein Motorrad. Cliff hätte es viel schlechter treffen können. Zum Teufel, das hatte er in der Vergangenheit oft genug getan. Und wenn Gerry manchmal ein bißchen langweilig war, wenn sein Ordnungs- und Pünktlichkeitsfimmel einem hin und wieder gegen den Strich ging, wenn er manchmal allzusehr klammerte und man ihn am liebsten mit einem Schlag in die nächste Zeitzone befördert hätte ... nun, waren das im Grunde nicht lauter Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was Gerry zu bieten hatte? Ganz gewiß. Wenigstens schien es so.
Cliff bog in die Uferstraße von Clacton ein und sauste die King's Parade hinunter. Dieses Stück Heimweg haßte er: eine Reihe heruntergekommener alter Häuser, uralter Hotels und schäbiger Pflegeheime. Er haßte den Anblick dieser Alten, die an ihre Gehhilfen geklammert dahinschlurften, nichts mehr vor sich hatten und nur noch über die Vergangenheit reden konnten. Jedesmal, wenn er sie sah und dieses Milieu, in dem sie lebten, gelobte er sich von neuem, daß er niemals so enden würde. Eher würde er sterben, sagte er sich stets, als sein Leben auf diese Weise zu beschließen. Und wie immer, wenn das erste Pflegeheim in Sicht kam, drückte er das Gaspedal seines alten Deux Cheveaux durch und richtete den Blick auf die wogenden Massen der graugrünen Nordsee.
Heute war es nicht anders. Es war eher noch schlimmer als sonst. Die Hitze hatte die Alten in Scharen aus ihren Höhlen gelockt. Sie bildeten eine wackelnde, schwankende, schiebende Masse glänzender Kahlköpfe, blauer Frisuren und
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