09-Die Pfade des Schicksals
erlangen können, den sie bei ihren Patienten beobachtet hatte. Im Lauf der Zeit wäre es ihr vielleicht sogar gelungen, die Zeichen von Fruchtbarkeit und hohem Gras nachzubilden - den Beweis dafür, dass sie den Preis des Schmerzes gezahlt hatte. Aber während sie bei jedem befreienden, grausamen Schnitt stöhnte, merkte sie plötzlich, dass Hyn über ihr stand.
Die Stute war kaum mehr als eine Silhouette vor dem Sternenhimmel. Auch ihre schwach leuchtende Blesse war kaum auszumachen; ihre Augen waren nur andeutungsweise zu erkennen. Trotzdem beschämte ihre Anwesenheit Linden.
Kein psychisch Kranker, der sich selbst schnitt, wollte dabei beobachtet werden. Das verkehrte die ersehnte Wirkung des Schmerzes ins Gegenteil.
Linden brauchte diese Wirkung. Trotzdem verdarb Hyn sie ihr.
Leise stöhnend warf Linden den Stein weg. Zog das Jeansbein wieder herunter. Kam mühsam auf die Beine. Sie wollte Hyn fluchend wegschicken, aber ihr fielen keine Flüche ein - keine, die so bitter waren wie ihr Leben.
Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sie sich tief genug geschnitten hatte, um so lange wach bleiben zu können, wie ihre verbliebenen Gefährten sie brauchten.
Solange Joan lebte und ihnen Zäsuren entgegenschleudern konnte …
Als die Sonne endlich aufging, färbte sich den Himmel für kurze Zeit blutrot, als hinge Staub oder Asche in der Luft: Ein böses Omen? Dann fielen Stürme über die Region her, und das rote Leuchten verschwand.
Sie schien aus allen Himmelsrichtungen gleichzeitig hereinzubrechen und prallten mit solcher Gewalt zusammen, dass ihr Donner die Erde erzittern ließ. Wind und Regen trafen Linden mal von vorn, mal von hinten; ein Chaos aus Sturmböen und Wolkenbrüchen, die rascher wechselten, als man sie verfolgen konnte. Dies war kein gewöhnliches heftiges Unwetter; dahinter steckte jedoch auch keine bösartige Absicht. Stattdessen war dieser Konflikt von Böen und Schauern eine indirekte Folge von zu vielen Zäsuren.
Sein Aufruhr erschien wie ein Vorzeichen.
Jetzt war Linden mehr denn je auf die Sinne der Ranyhyn angewiesen. Die tobenden Naturgewalten beeinträchtigten ihre eigene Wahrnehmungsgabe. Warnten Hyn oder die anderen Pferde sie nicht, würde sie eine Zäsur wahrscheinlich erst erkennen, wenn sie schon beinahe von ihr erfasst wurde.
Als die Gesellschaft wieder aufbrach, ritt Linden, in die Unterlegplane der letzten Bettrolle des Eifrigen gehüllt. Sie diente als gewisser Wetterschutz und verhinderte, dass Linden ganz auskühlte. Aber sie hielt den peitschenden Regen nicht ab, der ihre ungeschützten Wangen, ihre offenen Augen traf.
Auf ihre Bitte hatte Sturmvorbei Böen-Ende Jeremiah in die Decken gewickelt. Aber der Junge versuchte nicht, sie zusammenzuhalten. Ebenso wenig reagierte er auf herabplatschende dicke Regentropfen, das Heulen unregelmäßiger Scherwinde. Böen-Ende musste neben Khelen hergehen, damit sie Jeremiahs Decken hochziehen konnte, wenn sie ihm wieder einmal von den Schultern rutschten.
Vielleicht brauchte er sie gar nicht. Vielleicht schützte die geerbte Erdkraft ihn vor Kälte, Nässe und Wind. So war es bei Anele gewesen. Trotzdem war Linden froh, dass Böen-Ende für den Jungen tat, was sie nur konnte.
Unter diesen Umständen war Linden nicht überrascht, als sie hörte, dass Mahrtiir Covenants Fährte verloren hatte. Der Mähnenhüter schien sich deshalb Vorwürfe zu machen, aber sie fragte sich, wie selbst der beste Fährtensucher der Ramen bei diesem Wetter noch Hufspuren auf dem durchweichten Boden hätte entdecken sollen. Außerdem wusste sie bereits, wohin Covenant wollte. Und Clyme und Branl waren bei ihm: Er würde sich also nicht verirren.
Noch immer weigerten die Ranyhyn sich, schneller zu laufen, als die Riesinnen gehen konnten. Als die Unwetter von allen Seiten auf Linden einstürmten, ihr Wahrnehmungsvermögen behinderten und eine Art Klaustrophobie hervorriefen, konnte sie sich nicht länger beherrschen und bat Hyn um größere Eile. Aber die Stute ignorierte sie. Alle Pferde behielten ihren leichten Trab bei, der Linden quälend langsam erschien.
Trotzdem waren sie nicht müde. Linden konnte die vibrierende Kraft von Hyns Muskeln deutlich spüren. Und die Ranyhyn litten nicht unter Futtermangel. Sie fanden in regelmäßigen Abständen ausreichend große Weideflächen für sich und Ansammlungen von Schatzbeeren für ihre Reiter. Dort machten sie jeweils halt, bis Mensch und Tier frisch gestärkt waren. Mit unerklärlicher Hartnäckigkeit
Weitere Kostenlose Bücher