0950 - Ein Gruß aus der Hölle
ihren zwölf Jahren schon, daß auf der Welt nicht alles gut war. Es gab schon böse und grausame Menschen, darüber hatte sie immer wieder gelesen, und auch in der Schule war vor gewissen Typen gewarnt worden, aber in ihrer eigenen, in ihren persönlichen Kreislauf waren diese Dinge nie eingedrungen. Der war bisher frei davon geblieben, bis zum gestrigen Tag.
Die Worte hatten sie natürlich aufgewühlt, und ihre Gedanken jagten sich.
Sie dachte darüber nach, wer ihr denn etwas derartig Böses antun wollte.
Nein, da kannte sie keinen.
Nicht ihre Freundinnen in der Schule, nicht ihre Mutter, nicht die Nachbarn, auch nicht der Vater, der zwar woanders lebte, weil die Eltern sich hatten scheiden lassen, und der schon ein seltsamer Kauz war, aber warum sollte er ihr etwas Böses antun?
Nein - oder?
Komisch, daß sie immer an ihren Vater denken mußte. Sie versuchte auch, sich ihn bildlich vorzustellen und wunderte sich darüber, daß es ihr nicht gelang. Sein Gesicht und seine Gestalt blieben verschwommen, und plötzlich spürte Marion die Nässe in ihren Augen. Sie stand dicht davor, Tränen zu vergießen, und irgendwo tat es ihr auch gut, weinen zu können.
Caroline schaute sie an. Sie sagte nichts. Sie ließ das Mädchen weinen, bis Marion aus der schmalen Seitentasche ihres Kleides ein dünnes Taschentuch hervorholte, um die Augen abzutupfen. Anschließend schneuzte sie ihre Nase.
»Ist es jetzt besser?« erkundigte sich Caroline mitfühlend.
»Das ist eher komisch.«
»Warum?«
»Ich, ich weiß gar nichts mehr. Du hast mich richtig durcheinandergebracht.«
»Tut mir leid, aber das hatte ich nicht vor. Du hast mich gefragt, und ich habe dir eine Antwort gegeben. Das ist alles.«
Marion wischte sich wieder die Tränen aus den Augen. »Stimmt, du hast ja recht, aber komisch ist es schon.«
Caro lächelte. »Ich finde es gut, daß du es als komisch ansiehst. Bleib noch eine Weile dabei.«
»Und dann?«
»Abwarten!« flüsterte Caroline und drehte sich wieder um, weil sie nach vorn schauen wollte.
Marion Bates kannte sich in London nicht besonders aus, dafür war sie noch zu jung. Sie wußte nicht, durch welchen Stadtteil sie fuhren, aber hier in dieser Gegend standen die Häuser nicht mehr so dicht wie bei ihr Zuhause.
Es gab größere Lücken zwischen ihnen. Marion sah auch einige Grünflächen und ebenfalls Gebäude, die sicherlich alt waren und unter Denkmalschutz standen.
Caroline hatte von einem Friedhof gesprochen. Auch Friedhöfe waren Marion nicht unbedingt so bekannt, aber sie wußte schon, daß sie zumeist sehr groß waren. Daß dort nicht nur Gräber zu finden waren, sondern auch Sträucher und Bäume. Manche, vor allem ältere Friedhöfe gleichen schon lichten Wäldern, und sie schaute jetzt des öfteren nach links, um vielleicht das Ziel zu erkennen.
Noch entdeckte sie nichts. Eine breite Straße führte geradeaus Außer ihnen waren noch zahlreiche Fahrer unterwegs, aber es kam zu keinen Staus. Die kalte Wintersonne schien auf London nieder.
Sie sorgte für ein besonderes Licht, in dem die Konturen überall richtig klar und scharf hervortraten.
Weit war es nicht mehr. Das spürte sie. Und als sie wieder einmal nach links schaute, da fiel ihr der Wegweiser auf mit der Beschriftung Cemetary. Es war nicht mehr weit.
Sie zitterte plötzlich. Die Fahrerin bewegte das Taxi ganz auf die linke Seite. Sie setzte bereits den Blinker, weil der Wagen auf eine Kreuzung zufuhr, die frei war, so daß sie schnell in die andere Straße abbiegen konnte.
An ihr lag der Friedhof. Marion entdeckte die hohe Steinmauer, über deren Rand die kahlen Äste der Bäume schauten, als wollten sie mit überlangen skelettierten Fingern die Ruhe der vielen Toten in der Erde beschützen.
Die Zufahrt zum Friedhof war sehr breit und bildete einen halbrunden Platz, an dessen Ende sich der Eingang befand. Ein großes Tor, gehalten von zwei mächtigen Pfosten.
Zwei kleinere Blumenläden und ein Steinmetz hatten in flachen, budenähnlichen Baracken ihre Geschäfte eingerichtet, wobei der Steinmetz einen Teil seiner Ware - Grabsteine unterschiedlicher Größen und Preisklassen - draußen stehen hatte. Das konnte sich der Blumenmann nicht leisten.
Seine Ware wäre erfroren.
Die Fahrerin lenkte ihr Fahrzeug zwischen die beiden Geschäfte und hielt dort an.
»Nimm den Koffer mit«, sagte Caroline zu ihrer Freundin gewandt, als sie sich losschnallte und die Tür aufstieß, wobei die kalte Luft wie eine harte Wand in den
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