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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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fuhr.
    »Welchem Halbidioten habt ihr denn die Karre abgenommen?«, fragte ich. »Bei diesem Wetter …«
    »Ts, ts«, kicherte Ilja. »Boris Ignatjewitsch hat dir sein Automobil geliehen.«
    »Echt?«, fragte ich und drehte mich um. Zur Arbeit kam der Chef im Dienst-BMW. Diesen Hang zu unpraktischem Luxus hatte ich bislang bei ihm nicht bemerkt.
    »Echt. Wie hast du das geschafft, Antoschka?« Ilja machte eine Kopfbewegung zu dem über dem Haus aufragenden Wirbel hin. »Solche Fähigkeiten sind mir bei dir noch gar nicht aufgefallen!«
    »Ich habe ihn nicht berührt. Bloß mit der Frau gesprochen.«
    »Gesprochen? Oder gevögelt?«
    Typisch Ilja, dieses Verhalten legte er immer an den Tag, wenn er nervös war. Und Grund zur Beunruhigung hatten wir im Übermaß. Trotzdem verzog ich das Gesicht. Vielleicht weil ich irgendeine Impertinenz aus seinen Worten heraushörte, vielleicht weil es mich einfach verletzte.
    »Nein. Ilja, bitte nicht in diesem Ton.«
    »Entschuldige«, pflichtete er mir ohne weiteres bei. »Was hast du also gemacht?«
    »Einfach mit ihr gesprochen.«
    Endlich bog der Wagen auf den Prospekt ein.
    »Festhalten«, befahl Semjon kurz. Es presste mich in den Sitz. Hinten hantierte Ilja herum, kramte eine Zigarette heraus und zündete sie an.
    Binnen zwanzig Sekunden begriff ich, dass die bisherige Fahrt ein gemütlicher Spaziergang gewesen war.
    »Semjon, ist die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls ausgeschaltet worden?«, schrie ich. Das Auto schoss durch die Nacht, als versuche es, das Licht seiner Scheinwerfer zu überholen.
    »Seit siebzig Jahren sitz ich hinterm Steuer«, blaffte Semjon mich verächtlich an. »Während der Blockade habe ich Laster über die Straße des Lebens nach Leningrad gefahren!«
    Obwohl ich an seinen Worten nicht im Geringsten zweifelte, überlegte ich, ob die Fahrten damals nicht weniger gefährlich gewesen waren. Diese Geschwindigkeit gab es längst nicht – und einen Bombeneinschlag vorauszuberechnen, ist für einen Anderen kein Problem. Jetzt begegneten uns zwar nur noch wenige Autos, aber ein paar waren immerhin unterwegs. Die Straße war gelinde gesagt erbärmlich, unser Sportwagen für diese Verhältnisse in keiner Weise gedacht …
    »Ilja, was ist überhaupt passiert?«, fragte ich und versuchte, nicht auf den Laster zu starren, der uns gerade auswich. »Bist du auf dem Laufenden?«
    »Mit der Vampirin und diesem Bengel, meinst du?«
    »Ja.«
    »Wir haben mal wieder unsere Dummheit unter Beweis gestellt, das ist passiert.« Ilja fluchte. »Obwohl auch Dummheit relativ ist … Zunächst lief alles völlig normal. Tigerjunges und Bär haben sich den Eltern des Jungen als weit entfernte, aber geliebte Verwandte vorgestellt.«
    »Wir kommen aus dem Ural?«, fragte ich in Erinnerung an den Kurs zum Umgang mit Menschen und zu den Varianten der Kontaktaufnahme.
    »Ja. Alles lief gut. Eine große Tafel, genug zu trinken, Spezialitäten aus dem Ural … die aus dem Supermarkt um die Ecke stammten …«
    Mir fiel Bärs prall gefüllte Tasche ein.
    »Kurzum, sie ließen es sich richtig gut gehen.« In Iljas Stimme schwang weniger Neid mit als vielmehr die uneingeschränkte Billigung des Vorgehens seiner Kollegen. »Es war hell, warm, es war alles in Butter. Der Bengel saß mal mit ihnen zusammen, mal verschwand er in seinem Zimmer … Woher hätten sie wissen sollen, dass er allein ins Zwielicht eintreten konnte?«
    Mich überlief es kalt.
    In der Tat, woher?
    Kein Wort hatte ich gesagt. Weder ihnen noch dem Chef. Niemandem. Hatte den Jungen aus dem Zwielicht gezogen und ihm etwas von meinem Blut geopfert – und es damit genug sein lassen. Ein echter Held. Ein Einzelkämpfer.
    Ohne Verdacht zu schöpfen, fuhr Ilja fort: »Die Vampirin hat ihn mit dem Ruf gelockt. Der saß so genau, dass Tigerjunges und Bär nichts mitbekommen haben. Und er war stark – keinen Mucks hat der Junge von sich gegeben. Ist einfach ins Zwielicht eingetreten und aufs Dach geklettert.«
    »Wie das?«
    »Über die Balkons. Zum Dach sind es bloß drei Stockwerke. Die Vampirin hat da auf ihn gewartet. Da sie mitbekommen hatte, dass der Junge bewacht wird, hat sie ihn sich geschnappt und sich auf der Stelle zu erkennen gegeben. Seine Eltern schlafen momentan tief und fest, während die Vampirin wartet und den Jungen umklammert hält. Tigerjunges und Bär werden fast verrückt.«
    Ich schwieg. Es gab nichts zu sagen.
    »Unsere eigene Dummheit«, schloss Ilja. »Und ein verhängnisvolles Zusammentreffen

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