1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
»Das ist ein Geisterdorf. Als wäre es von den Menschen verlassen worden.«
Ich drehte den Kopf. »Aber du wirst sie schon finden.«
»Wo denn?«
»Denk an die Totenglocke.«
»Meinst du bei der Beerdigung auf dem Friedhof?«
»Wo sonst?«
»Da fahre ich jetzt hin«, sagte Bill. »Wir brauchen ja nur dem Kirchturm zu folgen.«
In der Mitte des Ortes rückten die Häuser noch enger zusammen. Wie eine starre Herde umstanden sie den Marktplatz, auf dem wir einen Steinbrunnen entdeckten.
Kleine Fenster ließen kaum einen Blick hinter die Mauern zu. Man hatte sie bewußt so klein gelassen, denn die Winter hier waren verdammt kalt, und man wollte dem Frost so wenig Chance wie möglich geben, in die Wohnungen zu kriechen.
Über manchen der alten Holztüren standen Jahreszahlen. Einzelne stammten aus dem sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert.
»Ich frage mich, wie man hier leben kann«, flüsterte Sheila. »Ich könnte das nicht. Das ist wie ein Gefängnis.«
Da hatte sie recht. Es sah auch so aus. Wie ein Gefängnis oder wie eine gigantische Falle der Natur.
Wenn hier Lawinen ins Tal rutschten, hatten die Menschen keine Chance, aber die Gefahr schien doch nicht so groß zu sein, sonst wären die Bauten hier nicht so alt gewesen.
Bill lenkte den Wagen in eine schmale Gasse. Gegenverkehr durfte es nicht geben. Gab es zum Glück auch nicht. Wir sahen nur ein altes Fahrrad an der Hauswand stehen.
Kein Kind spielte. Niemand schaute aus den Fenstern. Die Türen blieben geschlossen, und mein Gefühl der Beklemmung wuchs mit jeder vergehenden Sekunde.
Hier war etwas passiert. Hier war sogar etwas Schlimmes geschehen, mit dem ich noch nicht zurechtkam. Wie ein gewaltiger Schatten schien die Hand des Satans über dem Ort zu liegen.
Die Gasse öffnete sich an ihrem Ende. Wir hatten Pochavio an dieser Stelle praktisch verlassen, denn vor uns erstreckte sich eine freie Fläche, die schon zum Kirchplatz gehörte.
Zur Kirche selbst gelangte der Besucher ohne Schwierigkeiten. Wollte er den neben der Kirche liegenden Friedhof betreten, mußte er zunächst ein eisernes Tor öffnen, das eine menschenhohe Mauer teilte.
Das Tor stand offen. Nur war Bill in einem etwas schlechten Winkel angefahren, so daß uns kein Blick auf den Friedhof vergönnt war. Erst als wir ausgestiegen waren und die Türen geschlossen hatten, sahen wir die Menschen, die sich auf dem Gelände versammelt hatten. Und das waren nicht wenige.
»Hier scheinen alle Bewohner zusammengekommen zu sein«, meinte Bill. »Mit Kind und Kegel.«
Ich hob die Schultern. »Das ist auf dem Land so üblich.« Ich faßte zu, als Sheila loseilen wollte, und zerrte sie zurück.
»He, was ist denn?« beschwerte sie sich.
»Noch nicht, Sheila. Abwarten. Ich denke, wir sollten vorsichtig sein.«
Sie war damit nicht einverstanden.
»Glaubst du denn an irgendwelche Zombies?«
»Nein, das nicht. Aber daß einiges hier nicht mit rechten Dingen zugeht, das steht wohl fest.«
»Ja, das kann sein.«
»Eben.«
Sheila und Bill blieben zurück, als ich mich der Friedhofsmauer näherte. Ich wollte nicht durch das offene Tor gehen, sondern erst einen Blick über die Mauer werfen. Irgendwo hatte ich auch das unbestimmte Gefühl, hier keine normale Beerdigung zu erleben.
Ich mußte mich schon auf die Zehenspitzen stellen, um auf den Friedhof schauen zu können. Dabei hoffte ich, einen günstigen Platz erwischt zu haben. Zuerst sah ich die Dunkel gekleideten Trauergäste, die mir eigentlich den Blick auf das Wesentliche nahmen. Das frische Grab sah ich noch nicht, aber es fiel mir trotzdem etwas auf.
Auch wenn sich die Menschen hier zu einer Beerdigung zusammengefunden hatten, etwas war doch anders. Sie bewegten sich nicht, sie standen auf der Stelle wie die berühmten Ölgötzen. Das stieß mir schon seltsam auf, denn auch bei Beerdigungen unterhielt man sich, zeigte zumindest eine Reaktion, weinte oder schluchzte. Hier jedoch tat sich nichts. Der Friedhof samt seiner Bewohner schien regelrecht eingefroren zu sein.
So etwas konnte mir einfach nicht gefallen. Und selbst der alte Pfarrer machte auf mich einen verschüchterten und ängstlichen Eindruck. Etwas ging hier vor, und dieser Vorgang mußte sich an einem bestimmten Platz abspielen, zu dem alle hinschauten.
Ich hatte vielleicht zehn Sekunden über den Rand an der Mauer gestanden, als ich Bills Pfiff hörte.
Ich drehte mich um und sah sein heftiges Winken.
Der Reporter hielt sich direkt am Eingangstor auf, und Sheila
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