1035 - Die Totenkammer
Levine. Die Eltern der verschwundenen Studentinnen haben ein Recht darauf, zu erfahren, was mit ihren Kindern geschehen ist. Das denken Sie doch auch – oder?«
»Natürlich. Glauben Sie denn, daß ich das so einfach schlucke? Überlegen Sie mal, was hier in Eaton geschehen ist. Ausgerechnet in dieser traditionsreichen Stadt. Ich darf gar nicht weiter darüber nachdenken, wenn die Dinge an die große Glocke gehängt werden. Dann geht es abwärts. Da ist dann nichts mehr zu reparieren.« Er hob seine Schultern. »Klar, ich sehe ein, daß Sie Ihre Pflicht tun müssen. Polizeiarbeit, Spuren suchen, Meldungen nachgehen. Man kennt das ja.«
»Und bei Tristan Levine fangen wir an.«
»Ich kann Sie nicht daran hindern.«
»Die Kollegen haben nicht herausgefunden, wer Marita Levine angefahren hat?«
Professor Lester atmete ein und verdrehte die Augen. »Nein, Mr. Sinclair. Wenn ich es Ihnen doch sage. Es ist alles so quer gelaufen. Tristan hat sich auch völlig verändert. So wollte er nicht, daß jemand mit zur Beerdigung seiner geliebten Frau geht. Und Sie können mir glauben, er hat sie wirklich geliebt. Schon abgöttisch. Trotz des großen Altersunterschieds der beiden. Er hat sich gequält, er war fertig, und es wird noch lange dauern, bis er wieder so ist wie früher. Aber er hat den Weg dorthin bereits betreten.«
»Können Sie uns seine Adresse geben?«
Lester schwieg auf meine Frage. »Wollen Sie zu ihm?«
»Sicher.«
»Ich weiß nicht, ob er sich hier in Eaton aufhält.«
»Wir werden es schon herausfinden.«
»Geht er denn seinem Dienst nach?« erkundigte sich Suko. »Erscheint er zu den Vorlesungen regelmäßig?«
»Nein, nicht zu allen. Er hat einige abgesetzt. Er arbeitet im Moment noch mit halber Kraft. Das ist auch verständlich. Es gibt andere Kollegen, die ihn vertreten. Wir haben alle an seinem Schicksal Anteil genommen. Levine ist ein Mensch, der es packt. Das wissen wir, und daran glauben wir auch.«
»Seine Anschrift«, erinnerte ich den Dekan.
»Ja, natürlich.«
Wir bekamen sie aufgeschrieben und noch eine Erklärung dazu.
»Mein Freund Tristan Levine wohnt nicht in einem Haus, das zur Uni gehört. Er lebt in einem gemieteten Privathaus. Sehr nett. Etwas am Rand der Stadt. Seine junge Frau war damals begeistert.«
»Wunderbar.« Ich lächelte dem Dekan zu. »Dann dürfen wir uns recht herzlich bei Ihnen bedanken.« Ich räusperte mich. »Und noch etwas, Professor. Tun Sie uns allen einen Gefallen und rufen Sie Ihren Freund nicht an, wenn wir Sie verlassen haben.«
Lester schnappte nach Luft. »Wie käme ich dazu?«
»Es war auch nur ein Hinweis.«
»Gut. Dann wären wir klar.« Phil Lester war froh, uns los zu sein.
Das sahen wir ihm an. Er brachte uns sogar bis zur Tür, als wollte er sicher sein, daß wir seine Räume auch verließen.
Die Sekretärin hielt sich nicht mehr im Vorzimmer auf. So verfolgten uns auch keine scharfen Blicke, als wir gingen.
Innerhalb des Hauses blieben wir stumm. Erst als wir es verlassen hatten, stellte Suko eine Frage. »Ist das die Spur, die wir gesucht haben, John?«
»Weiß ich das?«
»Du hast doch immer einen gewissen Sinn dafür.«
Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Irgendwo müssen wir ja anfangen, denke ich.«
Neben dem BMW blieben wir stehen. Suko traf noch keine Anstalten, die Tür zu öffnen. Er sah sich um, als wollte er die sich allmählich färbenden Blätter genauer anschauen. Ein leichter Wind strich durch unsere Gesichter. Noch schien die Sonne und malte helle Flecken auf den Boden.
»Was ist denn?«
Suko hob die Schultern. »Ich weiß es selbst nicht, John. Ich denke immer darüber nach, wie jung diese Marita Levine war, als sie schließlich sterben mußte.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Aber dieser Mann wird einen Schock bekommen haben. Einen sehr großen sogar, und ich frage mich, wie er ihn verkraftet hat.«
Ich begriff, worauf Suko hinauswollte. »Denkst du etwa daran, daß sich bei ihm etwas verändert haben könnte? In seiner Psyche, meine ich?«
»Daran denke ich.«
»Bis hin zum Mord?«
Suko löste die Zentralverriegelung. »Ob es zu Morden gekommen ist, wissen wir nicht. Ich jedenfalls stelle mich darauf ein, schon einen komischen Kauz zu sehen.«
»Dann laß uns auch endlich fahren.«
***
Es war wieder diese Stille, die Tristan Levine vor kurzem noch erlebt hatte. Eine so absolute Ruhe, die aber nicht beruhigte, sondern so schrecklich und beklemmend war.
Vielleicht hatten sie sich auch durch das
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