13 - Wo kein Zeuge ist
nicht gesehen. Ich habe nicht einmal davon gewusst, und als Cybil und Pen erwähnten, dass ...« Offenbar sah sie irgendetwas in seinem Gesicht, denn sie trat einen Schritt näher und legte einen Arm um ihn. »Es ist nicht deswegen passiert. Das darfst du nicht glauben. Wenn du anfängst zu glauben ...«
Er wollte etwas erwidern, aber er brachte kein Wort heraus.
»Sie braucht dich jetzt«, fuhr Judith fort.
Er schüttelte den Kopf, machte auf dem Absatz kehrt, verließ das Krankenhaus und ging zu seinem Wagen zurück. Er hörte ihre Stimme, als sie ihm nachrief, und gleich darauf hörte er St. James, der offenbar in der Nähe gestanden hatte, als er Judith entdeckt hatte. Aber er konnte jetzt nicht innehalten und mit ihnen reden. Er hatte etwas zu erledigen, er musste gehen und die Dinge anpacken, wie er es von Anfang an hätte tun sollen.
Er fuhr schnell Richtung Brücke. Er musste handeln. Draußen war es kalt, grau und feucht - unverkennbar war ein heftiger Schauer im Anzug. Doch als die ersten Tropfen fielen, während er auf den Broadway einbog, nahm er sie auf der Windschutzscheibe kaum wahr, denn vor seinem geistigen Auge entwickelte sich bereits ein Drama, in dem er lieber keine Rolle gespielt hätte.
Der Beamte im Wachhäuschen an der Tiefgarageneinfahrt winkte ihn durch und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Lynley nickte ihm zu und fuhr weiter, hinunter auf die Parkebene, wo er den Bentley abstellte, einen Moment im Dämmerlicht stehen blieb und zu atmen versuchte, denn es kam ihm so vor, als habe sich Luft in seinen Lungen gestaut, seit er seiner Schwester die Zeitung, die ihn anklagte, in die Hand gedrückt, sich von ihr abgewandt und die Klinik verlassen hatte.
Er ging zum Aufzug. Sein Ziel war der Tower Block, jener Horst in luftigen Höhen, von dem aus man die Bäume im St. James Park sehen konnte, die den Wandel der Jahreszeiten anzeigten. Lynley begab sich dorthin. Er sah Gesichter wie aus einem Nebel heranschweben, und er hörte Stimmen, aber er konnte nichts verstehen.
Als er Assistant Commissioner Hilliers Büro erreichte, wollte die Sekretärin ihm den Weg versperren. »Superintendent«, sagte Judi MacIntosh in offiziellem Tonfall, doch dann sah oder begriff sie irgendetwas zum ersten Mal, denn sie fuhr fort: »Tommy ...« So viel Mitgefühl lag in ihrer Stimme, dass er es kaum ertragen konnte. »Sie sollten nicht hier sein. Fahren Sie zurück ins Krankenhaus.«
»Ist er da?«
»Ja. Aber ...«
»Dann treten Sie bitte beiseite.«
»Tommy, ich möchte nicht gezwungen sein, irgendjemanden zu alarmieren.«
»Dann tun Sie's nicht. Judi, treten Sie beiseite.«
»Lassen Sie mich ihm wenigstens Bescheid geben.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch, obwohl jede vernünftige Frau einfach vor ihm in Hilliers Büro gestürmt wäre. Doch sie machte alles nach Vorschrift, und das war ihr Untergang, denn jetzt, da der Weg frei war, öffnete er die Tür, trat ein und schloss sie hinter sich wieder.
Hillier telefonierte. »... viele bisher?«, sagte er gerade. »Gut. Ich will, dass aus allen Rohren geschossen wird ... Verdammt richtig, es muss eine Sonderkommission gebildet werden. Niemand darf ungestraft einen Polizeibeamten ...« Und dann entdeckte er Lynley und sagte ins Telefon: »Ich rufe zurück. Machen Sie weiter.«
Er legte auf und erhob sich. Er kam um den Schreibtisch herum. »Wie geht es ihr?«
Lynley antwortete nicht. Er spürte sein Herz gegen die Rippen hämmern.
Hillier wies auf das Telefon. »Das war Belgravia. Sie bekommen Freiwillige - dienstfreie Beamte, Bereitschaft, was auch immer - aus der ganzen Stadt. Sie alle ersuchen darum, für die Ermittlungen in diesem Fall eingeteilt zu werden. Sie haben eine Sonderkommission eingerichtet. Die Sache hat höchste Priorität. Sie haben gestern am späten Nachmittag die Arbeit aufgenommen.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Was? Setzen Sie sich. Hier. Ich besorge Ihnen etwas zu trinken. Haben Sie geschlafen? Etwas gegessen?« Hillier ging wieder zum Telefon. Er tippte eine Nummer ein und sagte, er wolle Sandwiches, Kaffee und nein, es sei ganz gleich, welche, man solle es nur so schnell wie möglich in sein Büro bringen. Den Kaffee zuerst. Und dann fragte er Lynley noch mal: »Wie geht es ihr?«
»Sie ist hirntot.« Es war das erste Mal, dass er es ausgesprochen hatte. »Helen ist hirntot. Meine Frau ist hirntot.«
Hilliers Gesicht erschlaffte. »Aber man sagte mir, eine Brustverletzung ... Wie kann das sein?«
Lynley zählte die
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