1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
beginnen, dass er noch vor einem halben Jahr gegen die Männer gekämpft hatte, mit denen er nun an einem Tisch saß.
Gleich bei der ersten Zusammenkunft mit den russischen Generälen war forschen Schrittes General Rajewski auf ihn zugegangen – der Befehlshaber jener Regimenter, die vor Borodino die nach ihm benannte Schanze verteidigten und mit denen sich Thielmann und seine Kürassiere am schicksalhaften 7 . September 1812 ein furchtbares, überaus verlustreiches Gemetzel geliefert hatten.
Thielmann zwang sich zu Gelassenheit angesichts dessen, was nun kommen mochte: eine weitere Beleidigung wie die des Fürsten Wolkonsky, eine Herausforderung zum Duell … Die ernsten Gesichtszüge des Generals mit dem pechschwarzen Haar und den breiten Koteletten, der nur wenig jünger war als er, deuteten auf eine Konfrontation.
Und er gab sich keinen Illusionen hin, wie sein Seitenwechsel von den Russen aufgenommen wurde. Hieß es nicht: Man liebt den Verrat, aber nicht den Verräter?
»Sie haben mich viele gute Männer gekostet bei Borodino, Generalleutnant«, begann Nikolai Nikolajewitsch Rajewski, als er vor dem einstigen Gegner stand. »Aber ich habe auch gesehen, wie todesmutig Sie gegen unsere Truppen ritten. Gott der Allmächtige muss an diesem Tag seine Hand über Sie gehalten haben.«
Er legte eine Pause ein und warf einen Blick in die Runde der versammelten Generäle.
Thielmann wartete. Er würde wohl noch mehrere solcher Reden ertragen müssen.
Sein Blick blieb an Prinz Eugen von Württemberg hängen, dem jungen Generalleutnant, der so bravourös den Rückzug der Alliierten nach der Schlacht bei Bautzen gesichert hatte. Sie waren beide Deutsche, doch in Smolensk und Borodino hatten auch sie sich als Feinde gegenübergestanden.
»Wir Russen haben eine Schwäche für Todesmut. Und einen tapferen Mann wissen wir zu schätzen«, sagte Rajewski in das Schweigen hinein. »Noch dazu einen, über den Gott
und
unser Zar die schützende Hand halten.«
Ein Lachen ging durch die Runde, dann reichte ihm sein einstiger Gegner die Hand. »Wir erwarten Großes von Ihnen, Thielmann!«
Dieser wäre auch gern bereit, Großes zu leisten; er konnte es kaum erwarten. Nur mangelte es ihm an Gelegenheit dazu.
Unmittelbar nach seinem Übertritt, in Bautzen, bekam er verständlicherweise noch kein eigenes Kommando. Seine Pläne von der Sächsischen Division hatten sich mit dem schnellen Rückzug über Spree und Neiße erst einmal zerschlagen. Und nun galt Waffenruhe.
Von Tag zu Tag wurde er rastloser. Alles hier schien ihm so absurd: die festlichen Tafeln, das vergoldete Geschirr, die fein geschliffenen Kristallgläser, die üppigen Mahle, die nicht enden wollenden Trinksprüche auf das Wohl des Zaren. Sie saßen und dinierten und tranken, als befänden sie sich im prachtvollsten Palast von St. Petersburg. Dabei waren sie in einer Wartestellung zwischen Frieden und Krieg, zwischen Rückzug und Angriff, und alles in ihm brodelte, etwas zu unternehmen.
Der Kontrast der verschwenderisch gedeckten Tafel des Zaren zu den Elendsszenen auf dem Rückweg von Russland, die sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatten, machte es ihm unmöglich, die Protektion durch Kaiser Alexander einfach nur zu genießen.
Deshalb trieb ihn auch an diesem Abend die Unruhe des Geistes aus dem Saal, sobald er die Gesellschaft verlassen durfte, ohne gegen die Etikette zu verstoßen.
Er war zu aufgewühlt, um gleich zu Bett zu gehen, hätte jetzt gern mit einem Freund gesprochen. Doch Carlowitz, Miltitz und auch Aster waren anderen Einheiten zugewiesen worden und nicht in der Nähe.
Als er an einer der hohen Flügeltüren vorbeiging, hielt er inne, und dann, aus einer plötzlichen Eingebung heraus, betrat er das leere Zimmer. Er hatte sich richtig erinnert; hier stand ein Pianoforte.
Zögernd ging er auf das Instrument zu, klappte den Deckel hoch und ließ die Finger über die Klaviatur gleiten. Eine saubere Tonfolge perlte heraus.
Er hatte schon jahrelang nicht mehr gespielt; die Zeiten waren einfach nicht danach gewesen. Und als er frierend und hungernd durch Russland gezogen war, während seine Männer vor seinen Augen starben oder deren Glieder erfroren, da hätte er selbst keinen Groschen mehr für sein Leben gegeben. Niemals wäre ihm der Gedanke gekommen, noch einmal mit diesen kälteklammen Fingern ein Musikinstrument zum Klingen zu bringen, überhaupt alle Finger an den Händen zu behalten.
Hatte ihn das Leben am Zarenhof zu weit vom Krieg
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