1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Kopf nahm und die Brille absetzte, um die Gläser zu putzen, wie so oft, wenn er Zeit zum Überlegen brauchte.
»Ich weiß es nicht«, gestand Friedrich Gerlach schließlich. »Ich weiß nicht, welches Spiel dieser Étienne mit dir treibt. Selbst wenn er Sympathie für dich empfindet, kann aus dieser Sache nichts werden. Deshalb halte dich fern von ihm, so gut es geht, ohne unhöflich zu werden. Halte
dein Herz
fern von ihm! Und was diesen Kuss auf die Wange betrifft … Du hast recht, es sind besondere Zeiten, die alten Maßstäbe wollen nicht mehr passen. Obwohl deine Tante da sicher anderer Meinung ist. Aber hüte dich, noch einmal solche Aufmerksamkeit zu erregen! Auch wenn die Leute durch den Krieg im Moment andere Sorgen haben – sie urteilen schnell und vergessen nicht. Irgendwann wird der Krieg vorbei sein. Was dann? Für den Zwischenfall vorhin können wir geltend machen, dass der Lieutenant dich überrumpelt hat, das war nicht zu übersehen. Doch noch so ein Vorfall, und dein Ruf wäre für alle Zeit dahin. Dann werde ich keinen respektablen Mann für dich finden können.«
Nun setzte er seine Brille umständlich wieder auf und zeigte auf die Wände voller Regale. »So viele Bücher – und nicht in einem steht die allein gültige Antwort auf das, was dich zerreißt! Es stimmt tatsächlich, was Trousteau sagte: Napoleon hat Fortschritt über Europa gebracht. Aber er brachte ihn mit Krieg, mit Leid und vieltausendfachem Tod.
Das
darf nicht der Preis für Fortschritt sein. Ein geeintes Europa wird es nur geben, wenn die Völker es auch wollen. Außerdem gibt es in diesem Krieg längst keine klare Unterscheidung mehr zwischen Gut und Böse, Freund und Feind. Bündnisse und Allianzen wechseln ständig, und oft erfahren wir einfachen Bürger nicht einmal davon. Wer eben noch als Retter kam, wird zum Eroberer, wer uns Freiheit verspricht, wird zum Unterdrücker. Noch schlimmer: Deutsche kämpfen gegen Deutsche! Rheinländer, Bayern und Württemberger gegen Preußen, und da die sächsische Armee nun nicht mehr neutral ist, bald auch noch Sachsen gegen Sachsen – gegen jene, die zu den Alliierten übergetreten sind.«
Der Buchdrucker atmete tief durch. »Ich weiß nicht, wie das alles enden wird. Niemand weiß es. Aber es hilft überhaupt nichts, sich in Gedanken schon alles Unglück auszumalen, das uns vielleicht droht, und sich davon lähmen zu lassen. Der einzige Weg, das zu überstehen, ist, jeden einzelnen Tag leben. Und sich dabei seine Menschlichkeit bewahren.«
Schlacht bei Bautzen
Kreckwitzer Höhen, östlich von Bautzen, 21 . Mai 1813
A llmächtiger, sie schicken die Garden gegen uns!«, schrie über den Donner der feindlichen Geschütze hinweg Füsilier Hansik, der Jüngste unter dem Kommando des preußischen Premierleutnants Maximilian Trepte.
Die Salve schlug mit infernalischem Krachen hinter ihnen ein. Zum Glück zu weit entfernt, um jemanden von seinen Männern direkt zu treffen, doch im großen Umkreis hagelte es von Felsbrocken abgesprengtes Gestein, Erdbatzen und splitternde Äste, die prasselnd zu Boden schlugen.
Augenblicke später antwortete die am Fuß der Hügelkette aufgestellte preußische Batterie mit einer eigenen machtvollen Salve. Dichter Pulverdampf verhüllte vorübergehend die aufmarschierenden Feinde.
Maximilian Treptes Zug stand mit einem Teil des Korps Blücher im Zentrum des schon den zweiten Tag währenden Kampfes: auf den Kreckwitzer Höhen, der markantesten Erhebung einige Kilometer östlich von Bautzen. Genau hier würde über den Ausgang der Schlacht entschieden werden. Diese Stellung mussten sie um jeden Preis halten.
Seit dem frühen Morgen tobte die Kanonade, war das Donnern der Geschütze aus allen Richtungen weit übers Land zu hören, und immer mehr Rauchsäulen um sie herum kündeten von in Flammen aufgegangenen Gehöften und Dörfern. Irgendwo dort mussten auch seine Brüder sein, und er hatte keine Ahnung, ob sie noch lebten.
Bis zum Mittag konzentrierten sich die gegnerischen Angriffe überraschenderweise nicht auf das Zentrum, sondern auf die nördlichen und südlichen Flanken. Doch seit einer halben Stunde fluteten von Norden und Westen her riesige feindliche Kolonnen in das von Spreearmen durchzogene Gelände vor ihnen. Treptes Männer mussten tatenlos zusehen, wie ihre Gegner die nahen Hügel besetzten und die Alliierten in blutigen Häuserkämpfen aus einem Dorf nach dem anderen vertrieben. Und jetzt rückten auch noch in endlos scheinenden Linien
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