227 - Herr des versunkenen Reiches
zusammen, um sich schwungvoll abstoßen zu können. Fast hätte sie dabei in ein Wurzelgeflecht gegriffen. Flach und groß lag es da, wo eben noch kahler Sandboden war. Ahnungsvoll hob Aruula den Kopf.
Vor ihr stand die Fleisch fressende Pflanze. Eine der riesigen Knospen hing herunter, baumelte knapp über Aruulas Gesicht.
Weg! Nur weg! Die Barbarin sank nach hinten, ruderte mit der freien Hand, wollte sich umdrehen. Ohne es zu merken, geriet sie dabei in die Reichweite des Rochens. Sein dürrer Schwanz kam durchs Wasser gepeitscht… und traf. Aruula spürte einen Stoß im Rücken, versuchte gegenzusteuern. Doch es gelang ihr nicht. Haltlos trieb sie an den Stamm der Pflanze, mitten hinein in wogendes Grün.
Fleisch!
Aruula war nicht sicher, ob das Wort tatsächlich gesprochen wurde oder ob sie eine Empfindung interpretiert hatte. Es spielte auch keine Rolle. Überleben war wichtig, nichts anderes zählte.
Schon begann das Gift zu wirken, verwandelte Angst in Gleichmut, Widerstand in träges Verharren. Aruula sah, wie sich die Riesenknospe zu vierteln begann und die Teile auseinander strebten. Messerscharfe Zacken blitzten an den Rändern. Es war ihr egal, irgendwie. Aruula wollte die Harpune loslassen, ihre Ruhe haben. Schlafen. Eine andere Frau hätte es wahrscheinlich getan, sich dem Halluzinogen ergeben.
Doch Aruula war nicht wie andere Frauen.
Sie war eine Kriegerin.
Mit aller Kraft erkämpfte sie sich den Rückweg in die Realität, durch Schwindelgefühle und Apathie. Aruula spürte den Harpunenstock in der Hand, zog ihren angewinkelten Arm zurück – und stieß zu. So hart sie konnte.
Die Steinspitze durchbohrte den Pflanzenstamm, blieb stecken, und Aruula glaubte einen Schrei zu hören, fremdartig und schrill. Er beeindruckte sie nicht. Zentimeter um Zentimeter stemmte sie die Harpune mitsamt der aufgespießten Pflanze hoch.
Das mörderische Gewächs hinterließ eine Spur aus Luftbläschen, als Aruula es dem Rochen zu drehte. Es war auf Töten programmiert, erkannte nicht, dass es selbst dem Tode geweiht war. So schnappte die Riesenknospe zu, mit erschreckender Schnelligkeit und mitten hinein in den Kopf des Raubfisches. Sie hielt ihn fest, während Quart’ols Mikrochimären am Stamm der Mutterpflanze hoch wuchsen. Unentwegt, immer weiter.
Innerhalb kurzer Zeit waren die beiden Fleischfresser von einer bionetischen Schicht umhüllt, die unlösbar an der Steinharpune klebte und rasch aushärtete. Damit war der Park von Gilam’esh’gad um eine – wenn auch düstere – Sehenswürdigkeit reicher: dem Stein gewordenen Moment, als eine Riesenpflanze einen Rochen fraß.
***
Gegen Mittag hatten sich die Wogen im Park wieder geglättet. Matt war über den ersten Schock hinweg und hätte sich gern noch ein wenig umgesehen. Doch Aruula verspürte wenig Lust auf eine weitere Erkundung des Areals, da konnte dann auch Vogler von seinem geplanten Unkrautvernichter reden, so viel er wollte.
»Recht hat sie«, stimmte Clarice ihr zu und schlug ein gemeinsames Essen bei sich daheim vor.
Das Haus der Marsianer lag im Stadtzentrum, auf dem Perlenweg. Er kreuzte die einzige Nord-Süd-Verbindung, die kein Muschelpflaster besaß, sondern schneeweiße, mit dem Saft der Purpurschnecke marmorierte Platten.
Die Purpurne Allee. Das war früher die Prachtstraße von Gilam’esh’gad gewesen, ein beliebter Treffpunkt der Gefährtinnen hochgestellter Hydriten. Hier streiften sie durch vornehme Geschäfte in den Muschel-Arkaden, probierten erlesene Speisen und schlossen Freundschaft mit dem einen oder anderen exquisiten Schmuckstück, das sie dem Gatten dann des Abends als absolutes Muss präsentierten.
Chronisten hatten Gilam’esh’gad immer die Rolle einer Hochburg des Wissens, des Lernens und der Weisheit zugeschrieben, darauf wurde großer Wert gelegt. Es stimmte ja auch, nur ging durch diese Scheuklappenpolitik vieles verloren, was das Gesamtbild der geheimnisvollen Tiefseebewohner besser – und positiv! – abgerundet hätte. Zum Beispiel wusste inzwischen niemand mehr, was für Schätze ihre Meister des Kunstgewerbes erzeugt hatten. Schmuck Made in Gilam’esh’gad wäre heute eine feste Größe auf dem Weltmarkt, wenn die Hydriten nicht so an ihrer einseitigen Berichterstattung festgehalten hätten.
Oder die Literatur! Wer kannte schon den unbedeutenden Stadtwächter, der die Geschichte Pozai’dons auf Austernschalen verewigte? Als wortgewaltige Lyrik, ohne den kleinsten Misston im Versmaß, ohne ein
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