36 - Das Vermächtnis des Inka
sind zwar steif und haben alles Gefühl verloren, aber ich denke, daß schnell eine Besserung, lateinisch Emendatio genannt, eintreten wird.“
Diese Hoffnung ging bald in Erfüllung, so daß Morgenstern die Dienste, welche der Chirurg ihm anbot, zurückweisen konnte.
Leider gab es für die Pferde keine Weide; sie mußten sogar auf das Wasser verzichten. Die Reiter verzehrten jeder ein Stück Dürrfleisch und legten sich dann schlafen, da mit dem ersten Morgengrauen aufgebrochen werden sollte. Um diese Zeit ging es weiter, gerade wie gestern immer über Sand, bis gegen Mittag am Horizont ein dunkler Streifen auftauchte. Der Vater Jaguar verkündete, indem er auf denselben deutete: „Dort ist die Blutegelquelle. Der Name hat zwar keinen guten Klang, doch darf man nicht nach demselben auf die Beschaffenheit des Ortes schließen. Es gibt reines Trinkwasser mehr als genug, auch grüne Bäume und Sträucher, und wie ihr seht, reiten wir schon über Gras, welches bei jedem weiteren Schritt dichter steht und saftiger wird.“
Er hatte recht. Der Gran Chaco war früher als eine sterile, unfruchtbare Gegend verrufen, und es gibt allerdings bedeutende Strecken, welche der Sandwüste Afrikas gleichen; aber wo Wasser vorhanden ist, entwickelt sich eine reiche, ja üppige Vegetation. Die Flüsse treten im November aus und setzen große Flächen unter Wasser, bei ihrem Rücktritt so viel Feuchtigkeit zurücklassend, daß sich der Pflanzenwuchs entwickeln und bis weit in die trockene Jahreszeit hinein erhalten kann. An den Ufern dieser Flüsse gibt es Wälder, welche den Urwäldern Brasiliens gleichen, und selbst in der Wüste findet man zahlreiche stehende Gewässer, welche so viele Pflanzen ernähren, daß dadurch auch die Tierwelt angezogen wird.
Ein solches Gewässer war auch die Fuente de los sanguijuelas. Es gab da mitten in der Sandwüste eine Lehmoase, deren Durchmesser mehrere tausend Schritt betrug. Inmitten dieser Oase lag ein kleiner Süßwassersee, welcher durch eine ziemlich reich fließende Quelle gespeist wurde. Da diese am Rand der Oase entsprang, hatte sie bis zum See eine Strecke zurückzulegen, auf der sie einen Graben bildete, welcher sehr wenig Gefälle hatte. Dieser Graben war halb angefüllt von verwesenden Pflanzenresten, welche einen moorartigen Boden bildeten, in dem zahllose Blutegel ihre Entwicklung gefunden hatten. Daher war diese Quelle die Blutegelquelle genannt worden. Übrigens hielten sich diese Tiere nur in dem Graben und nicht in der Quelle selbst auf, infolgedessen das Wasser derselben sich trinken ließ. Auch in dem See, welcher nicht sehr tief war, gab es keine Egel, desto mehr aber Fische, welche den in dieser Gegend schweifenden Roten oder Weißen ein willkommenes Mahl bieten konnten.
Um den See und an den beiden Ufern des Grabens hin zogen sich breite Ränder von Bäumen und Sträuchern, meist Channjars und Algaroten, in deren Laub eine muntere Vogelwelt ihr Wesen trieb. Und so weit der Einfluß der durchsickernden und verdunstenden Feuchtigkeit reichte, hatte sich auch außerhalb der Oase im Sand ein Graswuchs entwickelt, welcher zwar je weiter entfernt, um so spärlicher wurde, aber in der Nähe der Bäume ein saftiges Grün bildete, welches den Pferden der Truppe reichlich Nahrung bot.
Hier hielten die Reiter an. Sie tranken sich zunächst selbst erst satt und führten dann auch ihre Pferde zu der Quelle, um ihnen die seit gestern früh entbehrte Labung zu bieten. ‚Don Parmesan‘ hatte ebenso wie die anderen dürsten müssen, aber noch entzückter als über das ersehnte Wasser war er über die Blutegel, welche er in dem Graben sah.
„Welch ein Fund!“ rief er aus, indem er sich an Doktor Morgenstern wandte. „Hier könnte man tausend fieberkranken Menschen in einer halben Stunde tausend Liter Blut abzapfen. Freuen Sie sich nicht auch über diese prächtigen, allerliebsten Geschöpfe?“
„Wenn es lauter Mammuts oder Mastodons wären, würde es mich freuen“, antwortet der Gefragte, „aber ein Blutegel, lateinisch Hirudo genannt, kann mich nicht in Wonne versetzen.“
„Weil Sie mehr vor als nach der Sündflut leben, Señor. Denken Sie sich irgendeinen entzündeten Zustand. Welches Glück, wenn man da Blutegel bei der Hand hat. Jede Geschwulst wird dadurch gehoben, daß man einige Dutzend dieser nützlichen Geschöpfe an dieselbe legt. Ich setze den Fall, Ihre Zunge oder Ihr Zahnfleisch wäre geschwollen, so würde ich Ihnen mit Vergnügen zwanzig oder dreißig
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