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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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weigerten sie sich, die Existenz des Schreckens um sie herum anzuerkennen. Auf den Gesichtern anderer Fahrgäste war eine eigenartige Akzeptanz abzulesen, so als müsste alles so sein, als hätten sie es längst vorhergesehen. Maggie dachte an nichts anderes als an ihre Kinder, die im Kofferraum eines Autos in der Hitze gefangen waren.
    Irgendwann hörte sie auf, die Warnungen zu zählen, die man ihr zurief. »Gehen Sie nicht nach vorn!«, »Die erschießen Sie!« Vielleicht hatten die Leute recht, und die Entführer würden sie tatsächlich erschießen, aber Maggie konnte nicht anders. Sie musste zu George.
    Vor ihr versuchte ein Mann, auf das Dach des Zuges zu klettern, doch seine Füße fanden keinen Halt, und er schaffte es nicht, sich nach oben zu stemmen. Im Flackern der Zugbeleuchtung drehte er sich zu Maggie um. Für einen Moment war er als grünes Negativ auf ihrer Netzhaut zu sehen.
    »Es ist alles vorbei«, sagte er.
    »Was ist vorbei?«, fragte Maggie.
    »Es war nur eine Frage der Zeit, bis wieder so etwas passiert. Wir sind selbst daran schuld.« Er trug Anzug und Krawatte, und sein Seitenscheitel saß immer noch perfekt. Sein Verstand hingegen hatte sich verabschiedet.
    »Ich muss zu meinen Kindern. Können Sie mir helfen?«, fragte Maggie und hoffte, dass ihr eindringlicher Appell zu ihm durchdrang. Er sah aus, als könnte er selbst Vater sein.
    »Dort können Sie rein«, sagte er.
    »Danke«, antwortete Maggie und folgte der Richtung, in die er zeigte. Er hatte die Waggontür aufgehebelt, durch die sie nun im Halbdunkel zurück in den Zug kletterte. Die Beleuchtung wurde immer schwächer. In diesem Waggon war es leichter, sich einen Weg durch die Fahrgäste zu bahnen. Sie bewegte sich gegen den Strom. Am vorderen Ende des zweiten Waggons lagen Leichen, deren Blut das Wasser färbte. Hinter ihr flüsterte jemand eine Warnung, aber Maggie ignorierte sie und bewegte sich weiter auf die Tür am Ende des Waggons zu. Am Schluss musste sie Arme und Beine der getöteten Passagiere beiseiteschieben.
    Sie blickte durch das Fenster in der Verbindungstür und sah eine Leiche in der Mitte des Waggons liegen. Die Tür zur Fahrerkabine stand offen, und sie nahm eine Bewegung darin wahr und hörte jemanden sprechen. Die Türen zwischen zweitem und erstem Waggon waren mit einer Kette gesichert. Sie spielte mit dem Gedanken, sich durch die offenen Fenster zu zwängen, entschied sich jedoch dagegen und ging in die Hocke.
    »George, kannst du mich hören? George, ich bin es!«
    Ihre Sorge, dass sie vielleicht nicht laut genug gerufen hatte, zerstreute sich, als sie George mit zitternder Stimme fragen hörte: »Maggie?«
    Sie musste schnell reden, vielleicht blieb ihr nicht viel Zeit. Auch über die zusätzliche Gefahr, der sie George unter Umständen aussetzte, konnte sie jetzt nicht nachdenken. Sie wusste nur, dass sie ihm mitteilen musste, wo die Kinder waren.
    »Sophie und Ben wurden in den Kofferraum eines Autos gesperrt, auf dem Parkplatz von Morden. Wir müssen etwas tun, sonst sterben sie. Du musst über Funk Bescheid geben.«
    Ein Schuss hallte durch den Waggon. Wenn sie nicht neben sich in der Waggonwand das metallische Geräusch einer einschlagenden Kugel gehört hätte, hätte sie sich Sorgen um George gemacht. Aber der Entführer schoss offenbar nicht auf ihn, sondern auf sie. Sie hielt den Kopf gesenkt, damit er nicht im Fenster zu sehen war.
    »Hast du gehört, was ich gesagt habe, George?«
    Keine Antwort.
    »Du musst etwas tun, George. Wenn nicht, sterben sie!« Ein zweiter Schuss wurde abgefeuert und traf die Tür, hinter der sie kauerte. Sie hörte, wie sich Schritte näherten. Falls sie blieb, wo sie war, würde sie in wenigen Sekunden tot sein. In geduckter Haltung rannte sie zurück durch den Waggon und ging hinter einer Sitzreihe in Deckung. Als sie einen Blick riskierte, sah sie eine Gestalt im Fenster der Verbindungstür auftauchen: den Mann, der Sophie am Morgen seine Waffe an den Kopf gehalten hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er hielt sich das Gesicht, und sein ganzer Arm war rot und glänzend vor Blut. Als sie sah, wie er die Waffe hob, duckte sie sich wieder. Die Kugel schlug nur wenige Zentimeter von ihrem Kopf entfernt in die Sitze ein.
    12.42 Uhr
    U-Bahn-Leitstelle, St. James’s
    Die Funkverbindung mit der Fahrerkabine wurde in sämtliche Kopfhörer der in der Verhandlungszelle befindlichen Teammitglieder übertragen. Ed lauschte aufmerksam dem Verbindungsaufbau. Dann

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