9 Stunden Angst
allerwenigsten? Haben Sie Angst, dass ich Sie tatsächlich überreden könnte, Ihr Vorhaben aufzugeben?«
»Kommen Sie, Ed, das können Sie doch besser.«
»Tommy, Sie klingen anders als vorhin bei Ihrer Internetansprache. Was ist passiert?«
»Jemand hat mir ins Gesicht geschossen.«
Ed glaubte nicht, dass Tommy nur wegen einer Verletzung – und mochte sie noch so schmerzhaft sein – die Segel streichen würde. Seine wachsende Kommunikationsbereitschaft machte ihm dennoch Mut. Sie stellte eine grundlegende Verhaltensänderung dar, aber es blieb abzuwarten, ob dieser Umstand die Verhandlungen mit ihm erleichterte. Da die Webcam nicht mehr zu funktionieren schien, ließ sich die angebliche Verletzung unmöglich verifizieren. Falls Denning sie nur vortäuschte, war er ein großartiger Schauspieler.
»Wer hat auf Sie geschossen, Tommy?«
»Varick.«
»Wer ist Varick?«
»Ein Glaubensbruder. Er hat Cruor Christi mitbegründet.« Die Worte wurden leiser und endeten in einem Keuchen.
»Was ist los, Tommy?«
»Schmerzen.«
»Wir können Sie innerhalb weniger Minuten aus dem Tunnel holen und dafür sorgen, dass Sie medizinisch versorgt werden und Schmerzmittel bekommen.«
»Warum sollte ich Schmerzmittel brauchen?« Die Feindseligkeit in Tommys Stimme schien auf eine gewisse Verzweiflung hinzudeuten, die Ed Mut machte.
»Tommy, wenn Sie die ganze Sache abblasen, wird Ihnen das eine Menge Respekt einbringen.«
»Beleidigen Sie bitte nicht meine Intelligenz. Diese Scheiße funktioniert vielleicht bei den Verlierertypen, mit denen Sie sonst zu tun haben, aber Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich auf so etwas hereinfalle?«
Die Verhandlung verlief anders, als Ed es sich erhofft hatte, aber zumindest stellte Denning Fragen und schien daran interessiert, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Es wurde Zeit für eine neue Taktik. Ed verbannte jede Strenge und Autorität aus seiner Stimme, um auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, dass er als Vorgesetzter mit einem Untergebenen sprach. Sie unterhielten sich von Mann zu Mann.
»Warum geben Sie nicht auf, Tommy?«
Es war ein leises Kichern zu hören. »Einfach so?«
»Einfach so.«
Schweigen. Dann: »Jetzt werden Sie nicht lächerlich, Ed. Sie glauben doch nicht, dass Sie bei mir damit durchkommen, oder?«
Tommys Fragen waren sehr aufschlussreich. Dass es rein rhetorische Fragen waren, täuschte nicht darüber hinweg, dass er an Eds Meinung interessiert schien, auf Bestätigung aus war. Es war an der Zeit, sein Ego ein bisschen zu streicheln.
»Jede einzelne Nachrichtensendung auf der ganzen Welt berichtet über Sie. Was Sie erreicht haben, ist außergewöhnlich. Deshalb wird Sie auch jeder respektieren, wenn Sie jetzt Barmherzigkeit beweisen und die Fahrgäste freilassen.«
»Wir wissen beide, dass es nicht dazu kommen wird.«
»Ich weiß es nicht, Tommy, und ich glaube auch nicht, dass Sie sich so sicher sind, wie Sie vorgeben. Wenn Sie die Geiseln freilassen, gehen Sie als Volksheld in die Geschichte ein. Die Menschen werden Sie für diese Entscheidung bewundern und Ihnen in Zukunft zuhören, wenn Sie der Welt Ihre Gedanken und Überzeugungen mitteilen.«
Tommy saugte an seinem zerfetzten Zahnfleisch und seinen lädierten Zähnen. »Sie hören mir doch jetzt auch zu, oder etwa nicht?«
»Das tun sie allerdings, Tommy. Die ganze Welt hört Ihnen zu. Allerdings tut sie es aus Angst. Wenn Sie die Passagiere gehen lassen, wird man aus Respekt auf Sie hören.« Da Tommy schwieg, sprach Ed weiter: »Machen Sie der Sache ein Ende. Denken Sie an all die Menschen, an die Kinder und ihre Eltern, an die Familienangehörigen der Geiseln, an das, was sie jetzt gerade durchmachen.« Ed entschied sich nur selten für die emotionale Tour, weil es seiner Erfahrung nach am besten war, rational und objektiv zu argumentieren. Zuhören war ebenso wichtig wie reden, aber er nahm einen gewissen Frust in Dennings Stimme wahr. Der Mann hatte eine Krise. Nach all der langen Vorbereitung und Vorfreude hatte ihn die grausame Wirklichkeit seines Plans eingeholt. Der Schock über den Angriff von diesem Varick war ihm anzumerken; er hatte den Schmerz zu spüren bekommen, den er anderen zufügen wollte. Denning war nicht länger der übermütige, überhebliche junge Soldat. Falls es eine Möglichkeit gab, ihn verbal von seinem Vorhaben abzubringen, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Zumal es mit ziemlicher Sicherheit die letzte Chance war, die sich Ed bieten würde. Die
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