9 Stunden Angst
Auch sie sind auserwählt.«
»Diese Kinder wurden nicht auserwählt. Sie sind unschuldig. Lassen Sie sie gehen.«
»Ich habe große Schmerzen, Ed, und werde mich daher nun verabschieden.«
Er musste Denning am Funkgerät halten. Sonst blieb ihnen gar nichts mehr.
»Mit Schmerzen kenne ich mich aus, Tommy.«
»Ach ja?«
»Ich bin vor Jahren während einer Geiselverhandlung erblindet.«
»Sie sind blind?«
»Ja. Es gab eine Explosion, und das splitternde Glas hat mir das Gesicht zerschnitten und die Sehfähigkeit genommen.«
»Gott segne dich, Bartimäus. Ich werde für dich beten.«
»Wenn Sie etwas für mich tun wollen, Tommy, dann lassen Sie die Geiseln frei.«
»Das kann ich nicht tun, Ed. Es ist Gottes Wille, dass all dies geschieht.«
»Es ist nicht Gottes Wille!« Ed stieß es heftiger hervor als beabsichtigt. Seine Frustration ließ sich nicht länger zügeln.
Calvert drückte sein Bein, das vorher vereinbarte Zeichen dafür, dass Ed »einbrach«, wie sie es nannten, dass er sich zu sehr in die Verhandlung hineinziehen ließ und anfing, das übergeordnete Ziel aus den Augen zu verlieren. Tommy hatte es ebenfalls bemerkt.
»Ich verstehe Ihre Verbitterung, Ed. Nach dem heutigen Tag sind die englischen Behörden für alle Zeiten blamiert.«
»Warum das?«
»Zwei Worte: Simeon Fisher.«
»Wer ist das?«
»Einer von euch. Zumindest war er das. Jetzt ist er tot. Sie haben Glück, dass mein Laptop und meine Webcam kaputt sind, sonst hätte ich der ganzen Welt mitgeteilt, wie dämlich ihr seid.«
»Tommy, ich habe immer noch keine Ahnung, wer Simeon Fisher ist.«
»Dann sind Sie offenbar nur ein kleines Rädchen im Getriebe. Sie werden dennoch schnell herausfinden, wer er ist, da bin ich mir sicher.«
Die Funkverbindung knisterte und brach kurzzeitig ab, bevor sie wieder einsetzte.
»Tommy, die Funkverbindung wird nicht mehr lange durchhalten. Sie müssen die Leute im Zug freilassen.«
Statt einer Antwort folgte erneutes Knistern. Dann war aus dem Hintergrund eine Frauenstimme zu hören. Sie klang verzweifelt und schrie etwas von »Kofferraum«. Nach weiterem Geschrei fiel schließlich ein Schuss.
Stille. Die Frau meldete sich erneut zu Wort, aber es war unmöglich, über das Rauschen der immer schwächer werdenden Funkverbindung hinweg irgendetwas zu verstehen. Ein zweiter Schuss wurde abgefeuert, dann war nur noch Knistern und Zischen zu hören.
Nachdem die Funkverbindung wieder funktionierte, klang es, als wäre in der Fahrerkabine hektische Betriebsamkeit ausgebrochen.
»Tommy? Tommy, können Sie mich hören?« Auf Eds Fragen folgte ein anschwellendes Rauschen und dann Stille.
Ed hörte, wie White an verschiedenen Knöpfen drehte und auf seiner Computertastatur herumtippte, bevor er sagte: »Wir haben ihn verloren.«
Ed warf sein Headset vor sich auf den Schreibtisch, nahm die Sonnenbrille ab und presste Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel. Er hatte irgendwo gelesen, dass das gegen Verspannungen half, aber es schien nicht viel zu nützen. Tommy Denning war so high von Gott und seinen religiösen Fantasien, dass ein Umkehreffekt eingesetzt hatte: Er hatte ruhiger und vernünftiger geklungen als Ed. Dieser Psychopath würde die Passagiere niemals freilassen. Und es würde auch niemand kommen, um sie zu retten.
»Soll ich versuchen, noch einmal durchzukommen?«, fragte White.
Ed bejahte, obwohl er genau wusste, dass es aussichtslos war. Whites anhaltendes Schweigen bestätigte dies. Der Gedanke an das, was da tief unter den Straßen Londons vor sich ging, ließ ihm keine Ruhe. Die Beleuchtung in den Waggons würde bald endgültig ausfallen, falls sie es nicht längst getan hatte. Wenn die Lichter ausgingen, würden die Menschen im Zug die gleiche Dunkelheit erleben, die er seit dreizehn Jahren erlebte.
»Warum hat er dich bei diesem Namen genannt?«, fragte Calvert.
»Bartimäus?«
»Ja.«
»So hieß der blinde Bettler, den Jesus auf dem Weg nach Jericho heilte.«
Es war sinnlos, Laura zu fragen, ob sie von Serina Boise schon eine Rückmeldung bezüglich der Tunnelsprengung hatte. Das Komitee würde niemals grünes Licht dafür erteilen. Die Idee besaß dennoch eine verlockende Logik, weshalb Eds Gedanken immer wieder zu ihr zurückkehrten. Zumal er einen Mann kannte, der ihnen mit der Ausführung der Sprengung hätte helfen können, einen Mann, an den Ed jeden einzelnen Tag dachte, ob er nun wollte oder nicht. Er fragte sich, ob er den Verstand verloren hatte, weil er
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