9 Stunden Angst
Die Menschen, die auf dieser Welt etwas bewirkten, zeichneten sich nicht nur durch strategisches Denken und Anpassungsfähigkeit aus, sondern bewahrten auch die Ruhe, wenn Unvorhergesehenes passierte, und machten sich die Situation zunutze. In seinem Fall standen die Chancen schlecht, sehr schlecht. Es würde nicht leicht werden, die Sache wieder in Ordnung zu bringen, doch Hooper wusste, dass er es schaffen konnte, wenn er all seinen Mut und seine Entschlossenheit zusammennahm. Solange er nur an sich glaubte, konnte ihm niemand etwas anhaben.
13.01 Uhr
Zug Nummer 037 der Northern Line, erster Waggon
Seine Prioritäten hatten sich vollkommen verschoben. Noch vor wenigen Minuten war es sein oberstes Ziel gewesen, am Leben zu bleiben und seine Familie zu beschützen. Er hatte inständig gehofft, dass Tommy die klebrigen Reste auf dem Funkgerät nicht bemerkte, die zurückgeblieben waren, als er Ed Mallorys Funkspruch entgegengenommen und dabei heimlich versucht hatte, den Kaugummi zu entfernen. Seit Maggies Zuruf aus dem zweiten Waggon war alles anders. Während das Wasser gegen Georges Fußknöchel schlug, blickte er Denning an, der nervös blinzelte.
»Stimmt das?«
»Stimmt was?«
»Sie wissen genau, was ich meine, verdammt! Was haben Sie mit meinen Kindern gemacht?«
»War das Ihre Frau?«
»Raus mit der Sprache!«
»Tut mir leid. Wir wussten nicht, wohin mit den beiden.« Tommy Denning sagte es, als wäre er selbst noch ein Kind, eines, das man auf frischer Tat ertappt hatte. Von dem starken Mann mit der Waffe und der göttlichen Mission war nur noch ein schuldbewusster kleiner Junge übrig geblieben, der sich verzweifelt herauszureden versuchte. »Sie hätten sonst Verdacht erregt. Es wird ihnen schon gutgehen. Irgendjemand hat sie bestimmt gefunden. Wir dachten: Was soll’s?«
»Was soll’s? Was soll’s?! Ich dachte, Sie wären ein Christ! Was ist mit ›Lasset die Kindlein zu mir kommen‹? Was ist damit, Tommy? Sie sind nicht der neue Messias, Sie sind der verdammte Teufel!«
»Sorgen Sie sich nicht um Ihre Kinder, sondern um sich selbst. Wir kommen allein auf diese Welt, und wir verlassen sie auch allein. Sie werden Teil von etwas sein, was die Menschheit seit zweitausend Jahren nicht mehr erlebt hat.«
Weil George seine Wut so lange unterdrückt hatte, brach sie nun umso heftiger hervor. Es fühlte sich an, als würden jeder Frust und jede Verärgerung, die er zeit seines Lebens verdrängt hatte, an die Oberfläche steigen.
»Betrachten Sie es als notwendiges Opfer«, fuhr Tommy fort. »Abraham war bereit, seinen Sohn zu opfern, und Sie sollten bereit sein, dasselbe zu tun. Auch Sie sind ein Prophet. Sie sind mir in meinen Träumen begegnet, George. Sie sind meinesgleichen und werden mit mir kommen.«
Wenn ihn das, was er gleich tun würde, das Leben kostete, dann sollte es so sein. George Wakeham hatte sein ganzes Leben lang seinen Stolz hinuntergeschluckt und sein wahres Ich unterdrückt. Damit war es jetzt vorbei. Rasend vor Wut stürzte er sich auf Tommy Denning. Da dieser immer noch seine geschundene Wange hielt, konnte er sich nur mit einer Hand wehren. Er versuchte, George mit seiner Waffe wegzuschlagen, und traf ihn an der Schläfe, aber George war größer und schwerer als er, und die Energie, die sich nach so langer Zeit entlud, ließ sich von Gegenwehr nicht aufhalten.
Es hängt alles von der Wahrnehmung ab, und in diesem entscheidenden Moment änderte sich Georges Wahrnehmung von seinem Peiniger von Grund auf. Tommy Denning war nicht mehr der verbitterte junge Soldat, dessen Gehirn der Krieg durcheinandergebracht hatte, eine fehlprogrammierte Killermaschine. Jetzt war er eine Kreatur, die es zu unterwerfen galt. Georges neu erwachter Kampfgeist war etwas Urzeitliches. Er tat, was er schon die ganze Zeit hätte tun sollen (Alle Lebewesen sind am gefährlichsten, wenn ihr Nachwuchs in Gefahr ist.): Er rettete seine Kinder.
Als Denning die Waffe zurückzog, um ein weiteres Mal auf ihn einzuschlagen – diesmal mit größerer, verheerenderer Wucht –, hatte George bereits die Hände um seinen Hals gelegt. Die Heftigkeit, mit der er dies tat, und sein Gewicht warfen Denning nach hinten. Er landete klatschend im Wasser auf dem Waggonboden, und George fiel auf ihn und grub seine Daumen in Dennings Kehle. Er wusste, was jetzt kam. Alles, was ihm zur Verfügung stand, war seine Wut. Es gab keine Strategie. Er wollte töten, und wenn Denning ihn gelassen hätte, hätte er ihm das Leben
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