9 Stunden Angst
eine Männerstimme mit starkem Londoner Akzent. Der Mann, zu dem sie gehörte, trat nach vorn. Er trug gewöhnliche Straßenkleidung: weiße Turnschuhe, die jetzt unter Wasser waren, dazu Jogginghose und T-Shirt. In der Hand hielt er ein großes Jagdmesser. Niemand wagte, es ihm abzunehmen.
»Können Sie damit umgehen?«, fragte Hugh.
»Nicht wirklich.«
»Kommen Sie mit?« Wenn er möglichst viele Mitstreiter zusammenbekam, waren sie der Entführerin wenigstens zahlenmäßig überlegen. Dann konnte sie zwar ein paar von ihnen unschädlich machen, jedoch nicht alle. Wer durchkam, konnte nach ihr treten und schlagen oder sie würgen. Was auch immer nötig war, um sie zu töten. Alles, was zwischen ihnen und der Freiheit stand, war eine zierliche Frau mit einer großen Waffe. Hugh blickte den Waggon entlang und sah sie im Fenster stehen. Wie würde sich sein potenzieller Rekrut entscheiden?
»Nein, lieber nicht. Aber nehmen Sie das Messer.« Genau in dem Moment, als Hugh das Jagdmesser entgegennahm, gingen die Lichter aus. Weiter vorne wurde gerufen und geschrien, doch im fünften Waggon blieb alles ruhig. Es war nicht vollkommen dunkel, da immer noch Handys und Laptops liefen. Immer mehr Stimmen – männliche wie weibliche – meldeten sich freiwillig zu Hughs Einsatztruppe.
»Wir gehen folgendermaßen vor«, flüsterte er im Halbdunkel. »Wir schleichen auf beiden Seiten außen am Zug entlang und suchen nach einer Tür oder einem Fenster, durch das wir in den sechsten Waggon gelangen können. Wir müssen uns so schnell wie möglich Zutritt verschaffen und sie angreifen, damit das Überraschungsmoment auf unserer Seite ist.«
13.03 Uhr
U-Bahn-Leitstelle St. James’s
»Ed, wir verlegen euch alle zum Leicester Square, an den Ort des Geschehens«, verkündete Laura. »Uns steht eine mobile Verhandlungszelle auf der Ladefläche eines Sattelschleppers zur Verfügung, der innerhalb der abgesperrten Zone geparkt ist. Die Funkverbindung mit dem Zug wird dorthin umgeleitet.«
»Nur werden wir leider keine Gelegenheit mehr erhalten, mit Tommy Denning zu sprechen.« Ed war es egal, dass er pessimistisch klang. Die Moral innerhalb der Zelle war ohnehin zerstört, darauf musste er jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Die Verhandlungen mit Tommy Denning waren vorbei, das stand fest. Wenn er schonungslos ehrlich war, war ihm klar, dass nie wirkliche Verhandlungen stattgefunden hatten.
»Da könnten Sie recht haben, Ed«, erwiderte Laura. »Gut möglich, dass wir keinen Kontakt mehr zu ihm aufnehmen können, aber die Verhandlungszelle muss trotzdem funktionstüchtig bleiben. Man weiß schließlich nie. Diese Zelle geht jetzt offline, während wir alle zum Tatort übersiedeln. Dort bedient ein zweites Verhandlungsteam die Funkverbindung, bis wir eingetroffen sind. Serina Boise wird vor Ort eine Lagebesprechung durchführen.«
»Gibt es immer noch keine Pläne, eine Sondereinsatztruppe in den Tunnel zu schicken?«
»Es wird mit Hochdruck an der besten Strategie gefeilt. Allerdings bereiten uns das Wasser und der Sprengstoff im Zug nach wie vor Probleme.«
»Ist Frank Moorcroft noch hier?«, fragte Ed, obwohl er genau wusste, dass der Professor anwesend war. Sein muffiger Geruch war unverkennbar.
»Ja, ich bin in der Tat noch hier, Ed«, meldete sich Moorcroft.
»Wie hoch ist der Wasserpegel zum jetzigen Zeitpunkt, was glauben Sie?«
»Eine akkurate Einschätzung ist leider nicht möglich, das möchte ich betonen. Wenn meine Berechnungen stimmen, müsste das Wasser den Menschen mittlerweile bis zu den Knien reichen, vielleicht sogar noch höher.«
»Das deckt sich mit den Informationen, die das Rechenzentrum den E-Mails und Anrufen aus dem Zug entnehmen konnte«, sagte Laura.
»Wie viel Zeit bleibt uns also noch, bis die Waggons vollgelaufen sind, was meinen Sie, Frank?«, fragte Ed und drehte sich zu dem Professor um.
»Dabei gibt es so viele Unbekannte, dass eine Berechnung mehr als …«
»Stellen Sie sich einfach vor, ich würde Ihnen eine Waffe an den Kopf halten.«
»Ich bin geladener Experte, keine Geisel«, stellte Moorcroft klar. Dann seufzte er. »Sehr grob geschätzt würde ich sagen: eine Stunde.«
»Haben wir bis dahin eine Spezialeinheit im Tunnel, Laura?«
Als Laura antwortete, nahm Ed leise Kritik in ihrer Stimme wahr. In ihren Augen war er soeben vom talentierten Verhandlungsführer, dessen ungewöhnliche Methoden man in Kauf nehmen musste, weil er in der Lage war, verrückt gewordenen Menschen
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