9 Stunden Angst
ließ Denning nicht aus den Augen und erzielte einen winzigen Sieg, als dieser den Blick abwandte. »Es spielt sich alles nur in Ihrem Kopf ab. Ein Trugbild, sonst nichts. Es gibt keinen Gott.«
»Das glauben nicht einmal Sie, George.«
»O doch, das glaube ich. Und Sie auch, wenn Sie ehrlich zu sich sind. Sie wissen, dass da nichts ist. Jeder weiß das. Tief in Ihrem Innern, in den Momenten, in denen Sie ganz allein mit sich sind und gezwungen, Wetten auf die eigene Existenz abzuschließen, wissen Sie es. Sie wissen es!«
»Ich vergebe Ihnen Ihre Blasphemie.«
»Ich will Ihre Vergebung nicht. Was ich sage, ist keine Blasphemie, sondern die Wahrheit.«
»Ich vergebe Ihnen.«
»Lassen Sie meine Frau gehen. Damit sie unsere Kinder retten kann.«
»Das kann ich nicht tun.«
Das Wasser war kalt, und George fröstelte zum ersten Mal an diesem Tag. »Tommy, morden ist nicht christlich.«
»Sagen Sie mir nicht, was christlich ist und was nicht.«
»Aber ich habe doch recht, oder etwa nicht?«
»Es ist christlich, die heilige Taufe durchzuführen und …«
»Lassen Sie meine Frau gehen.«
George stand mühsam auf und setzte sich wieder auf den Sitz. Tommy beobachtete ihn, und George fand, dass er wie ein Mensch aussah, der aufrichtig Mitleid empfand.
»Lassen Sie sie frei. Wenn sie gehen darf, kann sie die Kinder rausholen. Das wäre eine christliche Tat, Tommy.«
Denning stand nur da und starrte ihn an. Tiefe rote Furchen waren an seinem Hals zu sehen, wo George versucht hatte, ihn zu erwürgen, doch es waren eindeutig die fehlenden Teile seines Gesichts, die ihm am meisten zu schaffen machten. Er presste immer noch seine Hand gegen den zerklüfteten Krater seiner Wange, der weiterhin Blut spie.
»Ich verstehe und respektiere Ihr Anliegen, auch wenn Sie im Unrecht sind. Was für ein Bild würde es vermitteln, wenn ich Ihre Frau gehen ließe? Damit würde ich doch ausdrücken, dass ich nicht voll hinter meiner Tat stehe, dass sie kein Akt der Liebe ist.«
»Lassen Sie sie gehen, Tommy.«
»Ich mag den Eindruck erwecken, ich sei hasserfüllt und niederträchtig, aber ich tue das alles aus Liebe. Das müssen Sie endlich akzeptieren. Auch Ihr Herz wird getauft werden und Liebe empfangen.«
»Es sind Kinder, Tommy. Sie heißen Ben und Sophie. Ben ist fünf und Sophie zwei. Ben liebt Piraten, er hat ein kleines Piratenschiff aus Holz, das ihm alles bedeutet. Und Sophie ist ganz besessen von ihren vier Puppen. Sie redet mit ihnen und veranstaltet Kaffeekränzchen mit ihnen. Will Gott wirklich, dass Sie diese Kinder umbringen? Will er das? Will Gott, dass Sie zum Kindsmörder werden? Ist das die Rolle, die er Ihnen zugedacht hat?«
»Ich weiß, Sie denken, Sie könnten meinen Glauben ins Wanken bringen. Vergessen Sie es. Hier im Zug sind jede Menge Kinder. Wenn es Ihnen gelänge, Zweifel in mir zu säen, dann hätte ich diese Zweifel von Anfang an gehabt, schon bevor ich diese Reise angetreten habe. Sie müssen endlich einsehen, dass auch Ihre Kinder Teil des großen Ganzen sind. Sie sind genauso auserwählt wie Sie und ich. Verstehen Sie das denn nicht? Zweitausend Jahre nach Jesus Christus wurde wieder ein Mann geboren, der der Welt den Weg weist, und dieser Mann bin ich. Ich taufe meine Herde und wasche sie von ihren Sünden rein. Gott hat gewollt, dass es so kommt. Er hat auch gewollt, dass ein Mann namens Simeon Fisher auftaucht und mich hintergeht. Ich hätte ihn schon früher aus dem Weg schaffen können, doch ich habe ihn mit mir genommen. Jetzt ist er tot. Aber er ist genauso Teil dieser wunderbaren Reise wie Sie und ich. Erkennen Sie mich denn nicht, George? Sie müssen mich in Ihren Träumen gesehen haben.«
Tommy blickte ihn lächelnd an, und George hatte plötzlich ein Déjà-vu. Für einen kurzen Moment befürchtete er, Denning könnte recht haben. Vielleicht hatte er tatsächlich schon immer in einem dunklen Winkel seines Unterbewusstseins gelauert.
»Was ist mit Ihren Eltern, Tommy? Was ist mit ihnen passiert?«
George hatte mitbekommen, wie Ed Mallory, der Verhandlungsführer, Denning über Funk auf seine Kindheit und seine Eltern angesprochen hatte. Möglicherweise ließ sich daran anknüpfen.
»Meine Eltern haben mich verlassen.«
»Und was ist das für ein Gefühl?«
»Bemühen Sie sich nicht. Ich habe jahrelang mit Leuten gesprochen, die ganz erpicht darauf waren, mir eine Antwort auf diese Frage zu entlocken. Tatsache ist, dass Gott schon damals entschieden hat, was in meinem Leben
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