9 Stunden Angst
er dem Entführer dabei in die Augen gesehen hätte.
»Ich erwarte nicht, dass Sie mich verstehen.«
»Aber das ist es doch gerade, Tommy. Ich verstehe Sie. Auch ich weiß, was in der Bibel steht. Auch ich habe die Zehn Gebote in der Schule gelernt. Ich erinnere mich nicht mehr an alle, aber ich erinnere mich noch an das erste und wichtigste: ›Du sollst nicht töten.‹ Das steht schwarz auf weiß in der Heiligen Schrift. ›Du sollst nicht töten.‹ Bedeutet Ihnen das denn gar nichts, Tommy?«
»Es bedeutet mir alles. Es ist das Wort Gottes.«
»Dann lassen Sie mich und Maggie gehen.«
»Sie wissen, dass das nicht geht. Was ich hier tue, ist Gottes Werk.«
»Was ist mit dem ersten Gebot, Tommy? ›Du sollst nicht töten.‹ Du sollst verdammt noch mal nicht töten!«
13.31 Uhr
Camden Town
Calvert war so groß, dass Ed dessen rasierten Schädel am Kunststoffdach des Autos kratzen hörte, während sie nach Camden fuhren. Ed saß neben Moorcroft auf dem Rücksitz und löcherte den Professor mit Fragen bezüglich der Logistik einer kontrollierten Sprengung im Versorgungstunnel. Moorcroft hatte natürlich mitbekommen, dass seine früheren Aussagen eine Serie von Ereignissen in Gang gesetzt hatten, die aus dem Ruder zu laufen drohten, weshalb er seine ursprüngliche Hypothese durch zahlreiche Vorbehalte zu modifizieren versuchte. Als Ed ihn nach der Sprengstoffmenge fragte, die seiner Ansicht nach benötigt wurde, um eine Schneise zwischen den Tunnels zu schlagen, weigerte er sich rundheraus, ihm zu antworten.
»Nun sehen Sie doch endlich ein, dass es eine grobe Pflichtverletzung meinerseits wäre, diesbezüglich eine Schätzung zu wagen.«
»Kommen Sie, Frank, als Sie uns vorhin von der Möglichkeit einer Sprengung erzählten, klangen Sie deutlich optimistischer.«
»Es geht nicht darum, ob ich optimistisch oder pessimistisch klinge. Meine Aufgabe als Wissenschaftler besteht darin, auf empirische Beweise zu reagieren, und die liegen mir zum jetzigen Zeitpunkt nicht vor. Auch nach gründlichem Nachdenken über die Machbarkeit einer Sprengung kann ich daher zu keiner klaren …«
»Schon gut, verstanden.« Ed konnte das Gefasel des Professors nicht länger ertragen. Es führte zu nichts. Der Plan konnte funktionieren, er konnte aber auch schiefgehen. Mehr ließ sich Moorcroft nicht entlocken.
Seit sie von der U-Bahn-Leitstelle aufgebrochen waren, saß Nick Calvert schweigend am Steuer. Als er darauf bestanden hatte, dass er, Mallory und der Professor einen eigenen Wagen bekamen, hatte Ed ihm angehört, wie zuwider ihm die Täuschung seiner Vorgesetzten war. Ed war sich darüber im Klaren, dass er Calvert und Moorcroft zu etwas drängte, was ihnen Unbehagen bereitete. Wenn er sich nicht täuschte, las er aus dem Verhalten beider jedoch heraus, dass sie ihn zwar für komplett verrückt hielten, ein Funktionieren seines Plans aber nicht vollkommen ausschlossen. Ed beendete die Befragung des Professors und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Er wollte das Wohlwollen seiner beiden Mitverschwörer nicht vorzeitig ausreizen. Falls er seine Idee tatsächlich umsetzte, war er noch eine Weile auf sie angewiesen.
Er hatte keine Ahnung, was er zu Conor Joyce sagen würde, wenn er ihm nach dreizehneinhalb Jahren zum ersten Mal gegenüberstand. Was sollte man auch zu einem Mann sagen, dessen Frau wegen der eigenen Nachlässigkeit gestorben war? Nein, Nachlässigkeit war das falsche Wort. Ed neigte durchaus zur Selbstzerfleischung, was seine Rolle bei den damaligen Ereignissen anging, doch es war nicht wirklich Nachlässigkeit gewesen, die das dramatische Ende der Hanway-Street-Belagerung verschuldet hatte. Eher übertriebene Selbstsicherheit. Er hatte es nicht geschafft, dem IRA -Killer sein Vorhaben auszureden, woraufhin dieser sich selbst und Conors Frau Mary in die Luft gejagt und Ed bleibende körperliche Schäden zugefügt hatte. All dies hatte dazu geführt, dass Ed bei späteren Geiselnahmen gewissenhafter und vorsichtiger vorgegangen war und auf diese Weise zahlreiche Menschenleben gerettet hatte. Oder redete er sich das nur ein, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen? Es war ironisch und gleichzeitig irgendwie logisch, dass er ausgerechnet heute wieder dem Mann gegenübertreten würde, der sein schlimmstes berufliches Scheitern symbolisierte.
So unangenehm die Konfrontation mit Conor Joyce auch sein würde, er konnte vielleicht einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der heutigen Geiselsituation leisten,
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