9 Stunden Angst
furchtbar übertrieben. Das machte nichts. Genauso wenig, wie es jetzt etwas machte. Er sprintete laut schreiend los, direkt auf die Kinder zu, und schob dabei die Hand in die Hosentasche, als wollte er eine Waffe ziehen. An einem anderen Tag hätten sie vielleicht versucht, ihn zu überwältigen, aber nicht heute. Nachdem schon so viel schiefgegangen war, würden sie auf keinen Fall riskieren, dass diese Kinder erneut zu Schaden kamen.
Die Stimme aus dem Megafon brüllte ihm etwas zu, doch er schrie selbst so laut, dass er den genauen Wortlaut nicht verstand. Es dauerte länger als gedacht. Er war schon fast bei Sophie angekommen, als die erste Kugel ihn erwischte. Sie traf ihn im Bauchbereich. Vielleicht reichte das nicht. Er schleppte sich mühsam weiter. Die zweite Kugel traf ihn mitten in die Brust. Er würde nicht ins Krankenhaus müssen. Er hatte es geschafft, war unterwegs ins Himmelreich, wo ihn der Herr mit offenen Armen empfangen würde.
13.49 Uhr
Coopers Lane, Somers Town
»Er überquert die Straße und nähert sich einigen Bahnbögen. Jetzt klopft er an eine Tür in der Holzfassade.«
Ed saß mit dem Professor auf dem Rücksitz, während Calvert ihm beschrieb, was Conor Joyce tat.
»Die Tür wird von einem weißen Mann Mitte vierzig geöffnet, untersetzt, etwa ein Meter fünfundsiebzig groß. Sie reden miteinander. Joyce geht hinein und macht die Tür hinter sich zu.«
Ed sank auf dem Autositz nach unten. Die Tatsache, dass er Conor Joyce mit ins Boot geholt hatte, stellte ihn vor ganz neue Probleme. Der ehemalige IRA -Mann hatte sich leichter überzeugen lassen als befürchtet, aber es war gerade sein anscheinend entgegenkommendes Verhalten, das Ed Sorgen bereitete. Man musste kein Psychologe sein, um zu merken, dass Conor für seine Kooperation ein verstecktes Motiv hatte, und es war auch nicht schwierig zu erkennen, worin dieses bestand. Mit Frust kannte Ed sich aus. Er wusste genau, wie dieses Gefühl in einem gären und schwelen konnte. An jenem Tag vor gut dreizehn Jahren hatte Conor etwas verloren, was ihm viel bedeutet hatte. Eine solche Wunde verheilt nie. Ed hatte ihm nun die Gelegenheit zur Rache gegeben und musste damit rechnen, dass Conor sie ergriff.
Die Klimaanlage kämpfte gegen die Hitze im Inneren des Wagens an. Ed versuchte, alle Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Selbst wenn es ihm nur für ein paar Sekunden gelang, würde er sich danach besser fühlen, das wusste er. Dass Ed meditierte, hatte nicht das Geringste mit Spiritualität zu tun. Es ging ihm lediglich darum, jeden Tag für ein paar Minuten völlige Leere in seinem Kopf zu schaffen, um danach wieder klarer denken zu können. An diesem Tag hatte er wenig Aussicht auf Erfolg, weil ihm das Schicksal der Geiseln keine Ruhe ließ, doch er musste es wenigstens versuchen. Für die Einschätzung und Planung seines Vorhabens brauchte er einen scharfen Verstand. Calvert und Moorcroft konnte er dabei nicht um Rat fragen, denn ihre Antworten wären unweigerlich von vermeintlichen beruflichen Pflichten und Bedenken beeinflusst gewesen. Die beiden Männer waren zwar grundverschieden – der eine ein passionierter, erfahrener Polizist, der andere ein vergeistigter Wissenschaftler –, hatten jedoch eine entscheidende Gemeinsamkeit: ihr starkes Pflichtgefühl. Pflichtgefühl war in einer Situation wie der seinen keine große Hilfe, fand Ed. Er hätte jemanden gebraucht, dem seine Karriere und sein gesellschaftliches Ansehen egal waren, jemanden, der nicht um seine persönliche Sicherheit besorgt war.
»Was will er da drinnen?«, fragte Calvert.
»Er holt etwas ab«, antwortete Ed. Bevor Calvert nachhaken konnte, worum es sich dabei handelte, fuhr er fort: »Haben Sie Kinder, Nick?«
Wenn Ed sich richtig erinnerte, hatte Calvert zwei Söhne. Das hatte er ihm einmal während einer Kaffeepause erzählt, bei einem Antiterror-Lehrgang, bei dem sie beide als Gastredner geladen gewesen waren. Beim Gedanken an seinen Nachwuchs wurde die Stimme des großen, furchteinflößenden Polizisten ganz weich.
»Jack und Felix. Jack ist acht, und Felix ist fünf.«
»Wo sind sie heute?«
»Jack ist in der Schule und Felix im Kindergarten. Ed, wir müssen jetzt wirklich …«
»Ich habe keine Kinder. Irgendwie ist es nie dazu gekommen. Wirklich schade. Mein jüngerer Bruder hat drei ganz wunderbare Kinder.« Ed hörte, wie sich Calvert zu ihm nach hinten drehte, während er weiter vom Nachwuchs seines Bruders erzählte. Weil er selbst keine
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