9 Stunden Angst
gar nicht so lange her. Obwohl er kein Psychologe war und nichts von diesen blödsinnigen analytischen Selbsthilfebüchern hielt, wusste er, dass aus seinen Panikattacken ein ängstliches, zur Feigheit neigendes Naturell sprach. Erst die Ausweglosigkeit der Situation und die Notwendigkeit, endlich etwas zu unternehmen, hatten ihn zum Handeln gezwungen. Das war keine Tapferkeit, sondern schlicht das einzig richtige Verhalten. Das Wasser ging ihm inzwischen bis zur Körpermitte. Die Schulmädchen waren bereits auf die Sitze geklettert und hatten große Angst. Ihre Gesichter, die von den Displays der elektronischen Geräte erleuchtet wurden, trieben ihn an. Er konnte nicht einfach die Hände in den Schoß legen und zusehen, wie diese Kinder starben.
Er war der Erste, der den Waggon durch die Verbindungstür verließ und sich zwischen viertem und fünftem Waggon nach draußen zwängte, hinein ins kalte Wasser, das ihm hier bis zu den Schultern ging. Anschließend watete er am Waggon entlang Richtung Zugende. Der Plan, den sie vor wenigen Minuten flüsternd ausgeheckt hatten, bestand darin, dass sie sich in zwei Gruppen aufteilten und auf beiden Seiten zwischen Tunnel- und Zugwand zum sechsten Waggon schlichen. Dort würden sie versuchen, die Entführerin abzulenken, damit andere Mitglieder der Gruppe in den Waggon gelangen und versuchen konnten, sie umzubringen.
Es war kein guter Plan, das wusste er. Sie alle wussten es. Welche andere Wahl blieb ihnen? Hugh biss entschlossen die Zähne zusammen. Er hatte noch nie in seinem Leben gekämpft, aber wenn er irgendwie an diese Frau herankam, war sie so gut wie tot.
Die anderen folgten ihm. Er hörte, wie sie aus dem Waggon kletterten und sich ins Wasser hinunterließen. Keiner von ihnen sah aus wie ein Held. Sie sahen aus wie das, was sie waren: völlig verängstigte, verzweifelte Menschen, die um jeden Preis ihr Leben zu retten versuchten. Von der Vierergruppe, die am Morgen zufällig am hintersten Ende des Zuges zusammengesessen hatte, waren nur Daniella, die New Yorkerin, und er selbst übrig geblieben. Maggie war aus unerfindlichen Gründen zur Spitze des Zuges aufgebrochen, und Adam hatte die Hälfte seines Beins eingebüßt.
Über den Rest seiner Mitstreiter wusste Hugh so gut wie nichts, worüber er froh war. Jeder von ihnen war der Sohn, der Vater, die Mutter oder die Tochter von irgendjemandem. Das einzige Aufnahmekriterium war gewesen, dass die Freiwilligen volljährig waren, ansonsten hatte Hugh jeden willkommen geheißen, und so brach eine bunt zusammengewürfelte Truppe zu diesem Himmelfahrtskommando auf.
Als Daniella zwischen den Waggons nach unten kletterte, ging ihr das Wasser fast bis zum Kinn. Sie tastete sich an der Seitenwand des Zuges entlang, verlor jedoch schon nach wenigen Schritten den Halt auf dem unebenen Boden. Bevor sie sich wieder aufrappelte, wobei sie sich mit der einen Hand an der Waggonwand und mit der anderen an den Kabeln abstützte, die entlang der Tunnelwand verliefen, schluckte sie ein wenig Wasser. Es schmeckte sauer und schlammig. Sie spuckte es keuchend aus.
Je näher sie dem sechsten Waggon kam, desto heller wurde es. Die Entführerin hatte eine batteriebetriebene Laterne an einen Handlauf gehängt, und an der Decke tanzten die Schatten des sich kräuselnden Wassers. Die Frau stand breitbeinig da, das Gewehr quer über den Schultern, den rechten Arm in klassischer James-Dean-Pose darübergelegt. Sie sah aus, als würde sie eine Rolle spielen.
Der Plan war simpel: die Entführerin dazu provozieren, dass sie schoss, und durch die zerbrochenen Fensterscheiben in den Waggon eindringen. Sobald sie sich Zutritt verschafft hatten, würden sie den Moment abwarten, in dem sie nachladen musste, und sie dann angreifen und falls nötig umbringen. Daniella hatte sich in Hugh getäuscht. Er mochte ein weltfremder Sonderling mit überängstlichem Auftreten gewesen sein, aber er hatte irgendwo in seinem Inneren ungeahnte Kräfte ausgegraben, war unter Druck zu Hochform aufgelaufen. Der Plan, den Zug zurückzuerobern, stammte von ihm, und Daniella hatte immer noch keine Ahnung, warum sie sich als Freiwillige gemeldet hatte. Woher auch immer der Impuls dazu gekommen war, sie fühlte sich zum ersten Mal seit Beginn des ganzen Albtraums wieder halbwegs wie ein Mensch. Es hatte Momente gegeben, in denen sie fast durchgedreht wäre. Die mangelnde Bewegung und die Hilflosigkeit waren unerträglich gewesen. Jetzt hatte sie endlich etwas zu tun, etwas,
Weitere Kostenlose Bücher